Sebastian Hilli
Elogio de la sombra
für Streichquartett
Es ist immer wieder erstaunlich zu hören, welche enorme Bandbreite an Klängen, Stimmungen, ja, musikalischen Bildern ein Streichquartett zu erzeugen imstande ist. Vielleicht wählen zeitgenössische Komponist:innen gerade diese „klassische“ Gattung besonders häufig, weil sie ihnen über die Maßen flexibel und ausdrucksstark erscheint; möglicherweise ist es aber auch die Tatsache, dass es im heutigen Musikleben eine solche Fülle professioneller und hochvirtuoser Quartettformationen gibt, die früher oder später eine qualitätvolle Wiedergabe des eigenen Werks erwarten lässt.
Im Fall von Sebastian Hillis Streichquartett Elogio de la sombra auf Gedichte des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges kann von simpler Wiedergabe allerdings keine Rede sein. Denn trotz mannigfaltiger und mitunter sehr spezifischer Spielanweisungen müssen die vier Musikerinnen und Musiker hier auch noch eine überdurchschnittliche Portion Interpretationswillen mitbringen. Wer die Partitur des finnischen Komponisten und Dirigenten zum ersten Mal sieht, wird sich nur sehr schwer eine Vorstellung davon machen können, wie das 2016 uraufgeführte Werk mit seinen neun Sätzen wirklich klingen soll. Die Noten erwecken vielleicht sogar einen sehr viel bewegteren Eindruck als es die dem Schlaf in all seinen Formen gewidmete Komposition am Ende im Rahmen einer Aufführung hinterlassen wird. Die zwischen einer halben und rund fünf Minuten dauernden Abschnitte leben von einer hochkomplexen Kombination von Schab-, Schleif- oder Pfeiflauten mit Stimmen und Passagen in „konventioneller“ Streicher-Spieltechnik. Das führt zu durchaus mit dem Schlaf assoziierbaren Höreindrücken wie Dunkelheit, Düsternis, Melancholie, Leere, Kälte oder Schatten. Hillis Streichquartett umgibt damit etwas Geheimnisvolles und gleichzeitig Weites, das über größere Strecken sogar vergessen lässt, dass man hier nur einem Ensemble aus vier Instrumenten lauscht.
Die Klangregie – ähnlich einer Bildregie im Film – wird bei jeder Interpretation der Elogio de la sombra zum zentralen Element werden. Auch wenn die exakten Zeilen aus Jorge Luis Borges’ Gedichten nicht bekannt sind, die Sebastian Hilli zu den einzelnen Sätzen seines Streichquartetts inspiriert haben, ist es unabdingbar für die Interpret:innen, den möglichen musikalischen Bildern nachzuspüren, die der Notentext so vielschichtig umschreibt. Dabei ist die Auffächerung des Klangs, die auf den unendlichen spieltechnischen Möglichkeiten von Violine, Viola und Violoncello aufbaut, noch wichtiger als rhythmische Präzision oder lineare Entwicklung einzelner Stimmen. Sebastian Hillis klanglich weit ausgreifender Musik ist mit einem an die spielerischen Grenzen der Klangerzeugung gehenden Ansatz am meisten gedient.
Daniel Knödler