Mendelssohn Bartholdy, Felix
Elias
Oratorium für Soli, Chor und Orchester op. 70, Partitur/Klavierauszug
Schon 1836, nach Abschluss seines Oratoriums “Paulus”, begann Mendelssohn mit ersten Planungen zum “Elias”, doch erst der Auftrag des Birmingham Musical Festivals im Jahr 1845, für das folgende Jahr ein neues Oratorium zu komponieren, ließ ihn ans Werk gehen. Die Zusammenstellung des Librettos gestaltete sich zwar schwierig, doch die Wahl des musikkundigen Übersetzers William Bartholomew, der sich bereits früher bewährt hatte, erwies sich als Glücksfall: Dieser schuf eine gleichwertige englische Textfassung, die sich mit den gering veränderten Gesangspartien auf natürlichste Weise zusammenfügt. Trotz des großen Erfolgs der Uraufführung in Birmingham im August 1846 entschloss sich Mendelssohn zu einer umfassenden Revision des Werks. In dieser Fassung ist es seither in mehreren zuverlässigen Ausgaben verbreitet.
Die vorliegende Neuausgabe der Partitur entspricht vollkommen den Ansprüchen an eine Urtextausgabe für die Praxis. Neue Maßstäbe setzt sie mit ihrer optimalen Übersichtlichkeit: Die doppelten Bläser und die Bässe erhalten überall dort, wo sie nicht parallel geführt sind, ein jeweils eigenes System. Auch die Vokalstimmen sind trotz der zweisprachigen Wiedergabe bestens lesbar. Die Phrasierung der Vorhalte im Fugenthema der Ouvertüre lässt bedingt durch die Quellen einige Fragen offen, die der Herausgeber gewiss nicht zu entscheiden hat. Ein Hinweis im Vorwort auf dieses Problem wäre jedoch angemessen.
Aus einigen Briefen Mendelssohns ist überliefert, dass er fremde Klavierbearbeitungen seiner Werke sehr kritisch sah. Daher kommt dem hier veröffentlichten originalen Klavierauszug besondere Bedeutung zu. Auffällig sind neben den verbreiteten Oktavverdoppelungen im Bass die zahlreichen von der Partitur abweichenden Staccatopunkte über schnellen Notenwerten. Denkbar ist, dass der Komponist hier Rücksicht nahm auf den Klangcharakter der Klaviere seiner Zeit. Auch im Übrigen folgt er weit weniger genau seiner Partitur als dies fremde Bearbeiter tun. Zugunsten eines idiomatischen Klaviersatzes verzichtet er auf manches Motiv aus einer Nebenstimme. Etliche Dynamikzeichen und Akzente sind im Vergleich zur Partitur verschoben oder verändert. Auch bei der Phrasierung in den Instrumentalstimmen finden sich Abweichungen.
So befinden wir uns in der kuriosen Lage, dass uns der originale Klavierauszug bei der Suche nach authentischen Problemlösungen zumindest teilweise im Stich lässt. Anders als in modernen Ausgaben sind Angaben über Besetzung und Instrumentation völlig ausgespart. Gleichwohl lässt auch der Klavierauszug keinerlei Wünsche in Bezug auf Lesbarkeit und Übersichtlichkeit offen.
Um die Praxistauglichkeit dieser Ausgabe zu verbessern, soll ein deutschsprachiger Klavierauszug im handlicheren Pariser Format erscheinen. Ein hoch interessantes Dokument ist diese Ausgabe in jedem Fall. Sie zeigt nicht zuletzt, wie sich unsere Ansprüche an die editorische Sorgfalt in den letzten 150 Jahren verändert haben.
Jürgen Hinz