Harriet Oelers

Elektroakustische Musik in der DDR

Rezeption, Institutionen und Werke

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Böhlau
erschienen in: das Orchester 04/2022 , Seite 65

Harriet Oelers reüssiert in ihrer Dissertation mit einer beeindruckenden Materialfülle zu einem bislang wenig erschlossenen Bereich der DDR-Musikgeschichte. Sie beginnt mit der Aufzählung von Kompositionen aus den Jahren von 1960 bis 1989, die sie nach elektronischer Musik als Live-Erzeugung bzw. nach Werken mit Instrumentalpartien und Elektronik gliedert. Stücke mit von Verlagen gelieferten Zuspielmedien und Musiktheater mit elektronischen (Zusatz-)Besetzungen finden nur am Rand Erwähnung. Die Darstellung von Etablierung und zunehmender Akzeptanz erfolgt vor allem durch die Auswertung von Beiträgen in der DDR-Fachzeitschrift Musik und Gesellschaft.
Oelers schildert das Ringen um die Einrichtung der Studios in der Akademie der Künste (Ost-)Berlin und an der Dresdner Hochschule für Musik. Wie in der analog-physischen Musik entstanden in Anlehnung an die politische Lehrmeinung des Marxismus-Leninismus Zuschreibungen an die elektroakustische Musik des Westens. Während des Kalten Kriegs wurde diese sogar als künstlerisches Mittel zur Vorbereitung auf den Atomkrieg betrachtet. Oelers würdigt nachdrücklich die Bedeutung der Geraer Ferienkurse für zeitgenössische Musik als Forum und kommunikative Schnittstelle von Theorie, Praxis, Wissenschaft und Interpretation.
Die Erstellung und Erweiterung der Equipments in den Anfangsjahren ging oft auf Privatinitiativen zurück. Auffallend ist, dass es in der DDR nur wenige Protagonisten gab, die von konventionell-analogen Kompositionstechniken ganz zur elektroakustischen Musik wechselten. Siegfried Matthus’ Musik zu Bertolt Brechts Schauspiel Leben des Galilei wird neben Werken von Lothar Voigtländer, Ralf Hoyer, Paul-Heinz Dittrich und Hans Tutschku in Einzelanalysen vorgestellt. Wie im Westen waren Fachkreise fasziniert von der Offenheit des Materials und den multifunktionalen Anwendungsmöglichkeiten.
Die Gründung einer nationalen Gesellschaft für elektroakustische Musik in der DDR durch Georg Katzer und Lothar Voigtländer ereignete sich Anfang der 1970er Jahre fast gleichzeitig mit einer Repräsentation der DDR bei der Confédération internationale de la musique électroacoustique (CIME). Von starken Reibungen begleitet war die Rezeption von Karlheinz Stockhausen, des wichtigsten Repräsentanten der elektroakustischen Musik Westdeutschlands.
Einen Ausblick auf Konzertmodelle und Repertoireentwicklung setzt Oelers mit einem Kapitel über das 1970 gegründete Ensemble für Intuitive Musik Weimar. Anerkannte Persönlichkeiten Neuer Musik wie die Sängerin Roswitha Traxler und der Komponist Friedrich Goldmann waren in Besetzungen und Programmen äußerst flexibel.
Kurz vor Ende der DDR freute sich Georg Katzer über das Erreichte, sah aber noch viel Erweiterungs- und Entwicklungsbedarf. Bedeutung erlangte die elektroakustische Musik in der DDR demzufolge als Nischengenre, das dem Land Anerkennung und Präsenz in internationalen Fachverbänden und Wissenschaftsdiskussionen eröffnete.
Roland Dippel