Johannes Motschmann

Elegien und Tänze

für Violoncello und Klavier, Partitur und Stimme

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Edition Gravis
erschienen in: das Orchester 1/2022 , Seite 71

Bei aller Vorsicht, leichtfertig Etiketten zu verteilen: Johannes Motschmann ist ein typischer Post-Avantgardist. Sein künstlerisches Profil zeugt von einer stilistischen Breite und Offenheit, wie sie noch eine Generation zuvor kaum denkbar gewesen wäre. Seine Kompositionen werden auf Pop-Festivals ebenso aufgeführt wie auf „klassischen“ Konzertpodien.
Motschmann studierte Komposition, Klavier und Elektronische Musik, zunächst in Dresden, später in Karlsruhe. Hieran schloss sich ein Postgraduiertenstudium in Berlin an. Heute lebt Motschmann in Berlin, als Stipendiat des Experimentalstudios des SWR beschäftigt er sich intensiv mit Algorithmischer Komposition und forscht über Künstliche Intelligenz. Er arbeitet mit prominenten Musikern und Ensembles zusammen, etwa mit Ingo Metzmacher, dem Minguet Quartett, dem Ensemble Modern und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, an deren Musikerziehungsprojekt „Response“ er regelmäßig teilnimmt. Seit 2016 tritt Motschmann gemeinsam mit dem Multiperkussionisten David Panzl und dem Geiger und Tonmeister Boris Bolles auf.
Die Musik des Trios zielt darauf ab, elektronische Musik mit Originalinstrumenten (überwiegend der 70er und 80er Jahre) so auf die Bühne zu bringen, dass alle Sounds live generiert werden. Motschmann spricht von „neuen Klangräumen, inspiriert von elektronischer Musik, jedoch 100 Prozent handgemacht“.
Die außergewöhnliche Bandbreite dieses Spektrums kommt auch in der vorliegenden Neuveröffentlichung zum Ausdruck. Elegien und Tänze wurde komponiert für ein renommiertes Duo: den Cellisten Julian Arp und den Pianisten Caspar Frantz. Der Titel spielt mit Begriffen und Assoziationen traditioneller Musik des 19. Jahrhunderts, die musikalische Sprache indes ist die einer multistilistischen Gegenwart, in der Dissonanz, Konsonanz, Tonalität, Atonalität zu einem omnipräsenten Kontinuum zusammengewachsen sind. Im ersten der vier Sätze wechselt der Klavierpart zwischen Arabesken und harten Akkorden in synkopierenden Rhythmen, während der Cellopart sich über weite Strecken in ätherischen Flageoletts ergeht. Der „Grave“ überschriebene zweite Satz ist von einem gleichsam in Zeitlupe wiedergegebenen, ostinaten Tanz-Rhythmus geprägt, über dem das Cello expressive Linien bis in höchste Lagen zeichnet. Nach einem fragilen, aus wenigen Grundelementen fast im Schönberg’schen Sinn einer „entwickelnden Varia­tion“ generierten Lento folgt ein echter Parforceritt: Die Überschrift „Ground“ spielt auf den Passacaglia-Typus an – und in der Tat werden einige wenige ostinate, zumeist aufsteigende Grundmotive zigmal wiederholt, zugleich einander überlagert, sodass ein mehrschichtiges und überdies durch „rockig“ jagende Drives vorwärts getriebenes Geflecht entsteht. Ein Kritiker sprach von einem „hinreißenden postminimalistischen Delirium aus Rhythmusgroove und Harmoniesucht“.
Motschmanns Elegien und Tänze stellen an die beiden Ausführenden höchste Anforderungen. Indes: Die Mühe lohnt!
Gerhard Anders