Kapp, Villem

Elegie für Streichorchester

Partitur, hg. von Aare Tammesalu

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Eres, Lilienthal 2011
erschienen in: das Orchester 06/2012 , Seite 69

Im allgemeinen Bewusstsein ist die Musik Estlands, ja des gesamten Baltikums, heute vor allem durch eine beachtliche Chortradition und die teils großen Namen zeitgenössischer Komponisten wie Arvo Pärt, Erkki-Sven Tüür oder Pe¯teris Vasks präsent. Doch auch das ausgehende 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts haben in einer an musikalischer Tiefe nicht eben armen Region viel an Entdeckungen zu bieten. Und wie schon im Fall vieler deutschsprachiger Komponisten der nachromantischen Ära sind es auch bei der Wiederentdeckung estnischer Musik bisweilen Tonaufnahmen, die eine weitere Beschäftigung initiieren und mehr Notenausgaben nach sich ziehen.
Viel zu entdecken gibt es im Umfeld der viel bekannteren estnischen Namen wie Heino Eller oder Eduard Tubin bei der Familie Kapp, die gleich eine ganze Handvoll Komponisten und Chorleiter hervorgebracht hat. Ihr heute neben seinem Onkel Artur Kapp bekanntester Vertreter ist der 1913 in Suure-Jaani in Mittelestland geborene und 1964 in Tallinn gestorbene Villem Kapp, dessen Werk neben Kammermusik auch große sinfonische Beiträge, Oper und Kantate umfasst. Villem Kapps beeindruckende 2. Sinfonie ist ebenso im Bremer Eres-Verlag mit seinem großen Baltikum-Schwerpunkt erschienen wie die hier vorliegende, erst 2010 wiederentdeckte Elegie für Streichorchester.
Das knappe, rund vierminütige Stück hat Villem Kapp durchaus konventionell-spätromantisch in klassischer Besetzung angelegt – für die Entstehungszeit 1940 also weder in der Tonsprache noch hinsichtlich des verwendeten Instrumentariums wirklich progressiv. Gleichwohl zeichnet der Komponist auf engem Raum ein sehr fein abschattiertes, dreiteiliges Stimmungsbild im Stil eines Max Reger oder Alexander Zemlinsky. Klanglich besonders reizvoll ist der von einem zu wiederholenden Largo-Satz eingerahmte schnellere Mittelteil, der seine Wirkung aus einem gut austarierten Kontrast zwischen pizzicato zu spielenden und mit dem Bogen gestrichenen Streicherstimmen bezieht. Der langsame Rahmenteil selbst basiert auf einem recht dichten Stimmengeflecht, das durch geteilte erste und zweite Violinen und zwei Violoncellostimmen im bis zu acht Partien aufgefächert ist.
Nicht jedes Orchester mag die Möglichkeiten besitzen, die groß angelegten Werke Villem Kapps aufzuführen, die vielfach noch einer breiteren Wiederentdeckung harren. Aber mit dieser kleinen, wirkungsvollen Streicher-Elegie könnte der ein oder andere erste Schritt auf einer musikalischen Entdeckungsreise nach Estland gemacht werden. Genügend weitere Stationen dazu finden sich ganz bestimmt im umfangreichen Katalog des Eres-Verlags.
Daniel Knödler