Werke von Philippe Boesmans, Arnold Schönberg und Giacinto Scelsi

Einsamkeiten. Vier Stücke

Sarah Wegener (Sopran), Dörte Lyssewski (Sprecherin), David Kadouch (Klavier), Symphoniker Hamburg, Ltg. Sylvain Cambreling

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Symphoniker Hamburg
erschienen in: das Orchester 1/2022 , Seite 76

„Einsamkeiten“ – groß, dominant und alles beherrschend prangt der Titel auf dem Cover dieser CD. Noch vor gut anderthalb Jahren hätte dieses Schlagwort (dazu noch im Plural!) ein Achselzucken, bestenfalls ein Stirnrunzeln hervorgerufen, doch jetzt, nach erlebter Covid-Zeit, fühlt er sich seltsam vertraut an. Denn nach den Erfahrungen von Lockdown, Shutdown und Kulturstopp, nach der Zwangspause des öffentlichen und sozialen Lebens, nach der erzwungenen Stille im Konzertsaal macht so ein Titel neugierig, ja klingt geradezu vertraut – sind wir inzwischen nicht alle Experten in Sachen Einsamkeit?
Im Gespräch mit dem Intendanten Daniel Kühnel verrät Cambreling, dass es für ihn eben mehrere Einsamkeiten gibt, einerseits die Abwesenheit von Mitmenschen (und Empathie) und andererseits das sich selbstgenügsame Alleinsein mit sich selbst. Und dann natürlich die Einsamkeit seines Orchesters, das immer noch vor leeren Rängen spielen muss. Von daher ist das Programm dieser Aufnahme, das auch ein Konzert-Ersatz-Erlebnis für die ausgesperrten Hörer sein soll, die nun einsam vor den Boxen statt im Konzertsaalsessel sitzen, klug gewählt.
Zwei kleinere Werke des Belgiers Philippe Boesmans (Jahrgang 1936) rahmen Cambrelings Auswahl ein. Keine schlechte Wahl, denn Boesmans, eher bekannt durch seine Opern und die Zusammenarbeit mit Luc Bondy, nimmt in seinen kleineren Formen die Hörer direkt gefangen. Kein Wunder, dass sein Œuvre recht schnell zum Stammrepertoire des belgischen Avantgarde-Ensembles Musiques Nouvelles gehörte. In den sechs kurzen Sätzen der Chambres d’à côte lädt er zu einem klingenden Rundgang durch die Zimmersuite ein. Seine feinen impressionistischen Klanglinien führen durch eine Welt voller überraschender Aus- und Einsichten. Boesmans erzählt seine Geschichte unaufdringlich, er beschwört Bilder, denen man gerne nachlauscht.
Die Trakl-Lieder, der Ausklang dieser CD, wurden von Cambreling auf eine Fassung für kleines Orchester reduziert, die Coronaverordnung ließ die Aufführung der großen Orchesterfassung nicht zu. Doch die Reduktion tat den Liedern gut. Trakls mitunter düstere, ja schwermütige Zeilen kommen so besser, weil eindringlicher zur Geltung. Der helle, lebendig flimmernde Orchesterklang nimmt ihnen die Schwere und gibt der Sopranistin Sarah Wegener den passenden Raum zur virtuosen Ausleuchtung.
Überhaupt nimmt mich die klare Linienführung, die souveräne Gestaltung der Stimmungen für diese Aufnahme ein. Die Beschränkungen wurden zur Tugend gewandelt und zaubern ein höchst wandlungsfähiges und spielfreudiges Ensemble. So wird Schönbergs Ode an Napoleon op. 41b durch das Zusammenwachsen von Dörte Lyssewskis charaktervoller Rezitation und dem agilen Orchester zum ironisch-satirischen Kammerspiel. Wie passend in diesen Zeiten.
Markus Roschinski