Matthias Schmidt

Eingebildete Musik

Richard Wagner, das jüdische Wien und die Ästhetik der Moderne

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Edition Text + Kritik
erschienen in: das Orchester 05/2020 , Seite 66

Das vorliegende Buch behandelt in eher loser Folge und wechselseitig aufeinander bezogen recht unterschiedliche Themenfelder: Aspekte der Kulturgeschichte Wiens, ausgehend vom verheerenden Brand des Ringtheaters im Jahr 1881 (die Abbildung einer dabei zerstörten Taschenuhr auf dem vorderen Buchdeckel nimmt sofort gefangen); die prägende Gestalt Richard Wagners in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders die Interpretation und Wirkungsgeschichte seiner Judentum-Schrift; damit einhergehend unter anderem Aspekte der Beziehung zwischen Wagner und Eduard Hanslick; ferner Ausführungen zum immer wieder hergestellten Gegensatz zwischen „jüdischer Fremdartigkeit“ und „deutscher Innerlichkeit“ (ein im 19. Jahrhundert offenbar unausrottbares antisemitisches Stereotyp); dazu musikalisch-analytische Überlegungen zu Karl Goldmarks Oper Die Königin von Saba und Arnold Schönbergs Jakobsleiter sowie Moses und Aron. Mit Überlegungen zu Wagners Parsifal sowie resümierend zur Abhängigkeit und späteren Loslösung Goldmarks und Schönbergs von Wagner endet die Schrift.
Diese sehr knappe Inhaltsübersicht mag aufzeigen, dass der Untertitel des Buchs nicht optimal zu dem passt, was den Leser dann tatsächlich erwartet: An so manchem Goldmark- und Schönberg-Forscher wird die Schrift vorbeigehen, „das“ jüdische Wien der Jahrhundertwende wird nur in wenigen Ausschnitten erhellt, vom Werk Richard Wagners ist nur beiläufig die Rede – um nur drei Kritikpunkte zu nennen.
Die für den Autor zentrale Kategorie der inneren Einbildung bzw. der Einbildungskraft als Grundvoraussetzung für das eigenschöpferische Agieren des Genies bleibt trotz ausdrücklicher Begriffserklärung zu Beginn vage und bietet – betrachtet man das Buch als Ganzes – keinen entscheidenden Erkenntnisgewinn. Es ist für den Leser schwer, in der Fülle von bisweilen überraschend frei aufeinander bezogenen Detailinformationen und auch in der losen Aufeinanderfolge der Kapitel des Buchs die Übersicht zu behalten und die wirklich zentralen, wichtigen Gedanken des Autors, etwa zum Bilderverbot im Judentum, angemessen zu würdigen.
Der traditionelle Aufbau einer wissenschaftlichen Studie mit klar umrissener Problemstellung in der Einleitung, zusammenfassender kritischer Würdigung der Literatur, logischer Aufeinanderfolge der einzelnen Sachkapitel sowie einer knappen Bündelung der Ergebnisse am Schluss ist hier nur schemenhaft zu erkennen; dem philosophisch nicht vorgebildeten Leser wird vieles unklar bleiben.
Schade, dass das interessante, facettenreiche (und aktuelle!) Thema hier auf einem Niveau behandelt wird, das viele potenzielle Zielgruppen – sicher einen Großteil der Studierenden, nicht zuletzt aber auch den interessierten Laien – von vornherein ausschließt.
Ulrich Bartels