Caroline Lüderssen
Eine Kathedrale der Musik
Das Archivio Storico Ricordi
Die Romanistin Caroline Lüderssen hat sich viel vorgenommen, nämlich eine umfassende Wür-digung des historischen Archivs des italienischen Musikverlags Ricordi in Mailand. In einem ersten Schritt wird ein historischer Überblick des Traditionshauses geboten: von der Gründung 1808 bis zum Verkauf an die Verlagsgruppe Random House Bertelsmann 1994, die das vorliegende Buch auch veröffentlicht hat. Denn während Ricordi 2006 weiterverkauft wurde, verblieb das historische Archiv bei Bertelsmann: um die wertvollen Bestände als Gesamtes zu bewahren und sichtbar zu machen, wie zu lesen ist.Das geschieht in einem zweiten Schritt, jedenfalls in Teilen: Hier wird eine Auswahl von Dokumenten präsentiert. Kein leichtes Unterfangen: Immerhin zählt das Archiv insgesamt 7800 Autografe und Skizzen, Abertausende gedruckte Partituren, 31000 Briefe, 10000 Libretti, 6000 Fotografien, Aberhunderte Zeitschriften und Programmhefte, die vollständige Unternehmenskorrespondenz von 1888 bis 1962 sowie 13500 Entwürfe zu Bühnenbildern, Kostümen und Requisiten.Das erfährt man wiederum im dritten Teil, der eine Übersicht des Bestandes bietet. Schon damit wird klar, welche überragende Bedeutung das Ricordi-Archiv für die Forschung und Praxis hat. Zahllose Bereiche des Musiklebens lassen sich ergründen: vom Verlagsgeschäft über Fragen der Rezeption und Publizistik bis hin zum individuellen Arbeitsprozess von Komponisten. Letztere sind ein Whos who der italienisch-europäischen Musikkultur. Dabei spielt keineswegs nur das Opernschaffen eine zentrale Rolle, sondern ebenso die zeitgenössische Instrumentalmusik.Das Buch will sehr viel, vielleicht zu viel und kann im Grunde jeweils nur Schlaglichter auf die einzelnen Aspekte werfen. Eine straffere Selektion wäre in manchen Teilen fraglos lohnenswert gewesen.
Im historischen Überblick gäbe es jedenfalls Kürzungspotenziale. Mit dem Platz hätten weitere Ablichtungen handschriftlicher Partituren aufgenommen werden können. Sie sind der Clou dieses Buches, weil es faszinierend ist und erhellend, wie große Persönlichkeiten große Musik auf dem Papier jeweils entwerfen, darunter Giuseppe Verdi, Luigi Nono, Giacomo Puccini, Gio-achino Rossini, Ottorino Respighi, Johann Simon Mayr, Sylvano Bussotti oder Stefano Gervasoni. Eine Kathedrale der Musik, einzigartig in der Welt nannte Luciano Berio das Ricordi-Archiv. Umso zielführender wäre eine mehrbändige Publikation gewesen.Dafür aber ist ein schmucker Band mit vielen wertvollen Bilddokumenten herausgekommen, in dem sich genussvoll stöbern lässt. Dabei legt das Buch auch den Finger in eine tiefe Wunde, denn: Seit den 1990er Jahren, zumal unter Silvio Berlusconi, hat Italien eine beispiellose Zerstörung des eigenen Musikerbes erlebt, samt Schließungen oder Fusionen von Orchestern und Opernhäusern. In dieses traurige Szenario reiht sich das Ende von Ricordi als eigenständiges Unternehmen ein. So ist dieses Buch,
gewollt oder nicht, auch eine Mahnung.
Marco Frei