Klokova, Antonina / Jascha Nemtsow (Hg.)
Einbahnstraße oder “die heilige Brücke”?
Jüdische Musik und europäische Musikkultur
Dieses materialreiche Buch, Teil 14 der Serie Jüdische Musik, spiegelt teils auf Deutsch, teils auf Englisch die Vorträge eines Kongresses wider, der sich im Oktober 2011 in Görlitz bzw. dem benachbarten polnischen Zgorzelec dem Thema Jüdische Musik in Ost- und Mitteleuropa als völkerverbindender Faktor gewidmet hat.
Die Materie, man ahnt es, ist komplex, und so ist man dankbar, in der Einleitung des Herausgebers Jascha Nemtsov einen klugen historischen Überblick über die vergangenen 2000 Jahre im Spannungsfeld zwischen jüdischer und christlicher Musik zu erhalten. Die Anfänge dieser Zeit bleiben im Dunkeln, allenfalls Vermutungen über Parallelen zwischen jüdischen Bibelkantillationen und christlich-gregorianischem Choral sind möglich. Über das Mittelalter und die frühe Neuzeit hinweg herrschte grundsätzliche Abgrenzung zwischen den Theologien des Judentums und des Christentums, und das galt weitgehend auch für die musikalischen Entwicklungen. Erst im 20. Jahrhundert ändert sich das Bild grundlegend. Nun wird die jüdische Musik in ihrer Eigenständigkeit entdeckt, in die Kunstmusik integriert (übrigens auch von nichtjüdischen Komponisten wie beispielsweise Schostakowitsch) und musikwissenschaftlich erforscht.
Die Aufsätze des Bandes legen einen Schwerpunkt auf die Entwicklungen in Russland und in Polen. So schreibt James Loeffler über den russischen Nationalismus und die jüdische Musik, Antonina Klokova thematisiert Mieczyslaw Weinberg als Klassiker der sowjetischen jüdischen Musik, und Frank Harders-Wuthenow gibt einen Überblick über Polish-Jewish Composers in the Twentieth Century.
Jascha Nemtsov beschäftigt sich mit dem Judentum in Bolschewismus und Nationalsozialismus, die er als politische Zwillinge sieht, die versuchten, alle Formen der Vernichtung der Juden durchzuführen, die in Europa seit dem ausgehenden Mittelalter bereits vergessen wurden: Zwangsassimilation und Isolation, Vertreibung und Vernichtung.
Mit den Texten Beyond European Roots: Revisiting Jews and Music in American Life (Judah M. Cohen) und The Viennese Roots of Israeli Music and Their Spreading in the US-American Exile (Yuval Shaked) ist auch für den Blick in Richtung Westen gesorgt.
Leider geht im wissenschaftlichen Anhang dieses verdienstvollen Buches einiges drunter und drüber. So werden die Forscher Semyon Ginzburg (geb. 1901) und Saul Ginsburg (1866-1940), ebenso Pesach Marek (1862-1920, Mitarbeiter des Letzteren) und der polnisch-schweizerische Komponist Czeslaw Marek (1891-1985, erklärtermaßen kein Jude) im Quellenapparat bzw. im Personenregister offenbar als jeweils identisch behandelt. Dass mit Ernest Bloch einer der profiliertesten Komponisten jüdischer Musik nicht erwähnt wird, erscheint ebenfalls merkwürdig. Nicht zuletzt wünschte man sich kurze Biografien der Autoren.
Rainer Klaas