Lajos Lencsés
Ein denkendes Schilfrohr
Memoiren, mit DVD
Die fabelhafte Welt des großartigen ungarischen Oboisten Lajos Lencsés ist reich an Musik, Kunst, Literatur und Begegnungen. Handschriftlich hat er zehn Jahre lang Begebenheiten aus seinem Leben, kleine Geschichten und Gedichte niedergelegt. Nun hat er unter dem Titel Ein denkendes Schilfrohr – angelehnt an ein Gedicht von Blaise Pascal – seine Memoiren veröffentlicht. Voller Wehmut erzählt Lencsés von seinen Wurzeln im Bergdorf Dorog, wo das Schweineschlachten ein Großereignis war und wo er als Neunjähriger in der Bergmannskapelle gespielt hat. Nach seinem Musikstudium am Béla-Bartók-Konservatorium zog es Lencsés nach Paris, weil er „intensiv und frei“ leben wollte. Der Preis beim „Concours de Genève“ ebnete ihm den Weg über die westfälische Provinz bei der Philharmonia Hungarica zu seiner musikalischen Heimat, dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart. Fast vier Jahrzehnte war er dort als Solo-Oboist ein Stern des Orchesters. Musikalische Neugierde war für ihn Antrieb, nach unbekannten Werken für sein Instrument zu suchen. Ganze Generationen von Musikstudierenden verdanken Lajos Lencsés durch seine Entdeckungen einen Reichtum an musikalischer Energie. Diese spürt man beim Anschauen der zum Buch gehörigen DVD, der Konzertmitschnitt ist eine großzügige Beigabe. Den Dirigenten, die sein Leben geprägt haben, widmet er ganze Abschnitte: Roger Norrington, „Bio-Dirigent, alles naturbelassen ohne Geschmacksverstärker“, oder Neville Marriner, Edeltechniker und Feingeist. Karl Böhm (welcher Musiker kam schon mit diesem Dirigenten zurecht?) hingegen ist für ihn „als Denkmal krachend vom Sockel gefallen“. Voller Erfurcht beschreibt er seinen väterlichen Freund Sergiu Celibidache. Von der ersten Probe an hat ihn Celibidache mit seinem Vornamen angesprochen, Lajos war ohne jede Anbiederung einer seiner Lieblinge. Vielseitigkeit, Offenheit und Herzenswärme zeichnen dieses Buch aus. Aus Holz ist sein Instrument, deshalb bereichert Lencsés seine Lebenserinnerungen durch eindrucksvolle Farbfotos von Bäumen. Dadurch verleiht er seinen Schilderungen visuelle Ruhepunkte. Seinem Orchester war Lencsés treu. „Ich hätte nie bei den Berlinern gespielt. Ich hätte ja gar nicht gewusst, was ich da spielen muss.“ Umso trauriger ist er über die Fusion mit dem Zwillingsorchester aus Freiburg. Teodor Currentzis schätzt er sehr, die Zerstörung der Identität beider Orchester durch die Zusammenlegung ist für Lencsés jedoch eine kulturpolitische Sünde. Am Schluss seiner Erinnerungen denkt er auch über seinen Tod nach. Lajos Lencsés würde am liebsten als Musiker wiedergeboren werden. Und dann nochmal „mit offenen Augen, Ohren und Herzen“ leben. Dankbarkeit und vor allem die Liebe zu seinem unglaublich reichen Leben machen dieses wunderschöne Buch lesenswert und zu einem Geschenk.
Holger Simon