Edition Wilhelm Furtwängler
The complete RIAS recordings
Analoge historische Knisteraufnahmen versus unzulänglich digitalisierte auf CD: Was die Furtwängler-Rezeption angeht, war man bislang nicht gerade verwöhnt. Dafür steht man nunmehr nicht vor der Wahl des kleineren Übels. Man will seinen Ohren fast nicht trauen, von so großartiger technischer Qualität sind die in einer Box erschienenen zwölf CDs mit Berliner philharmonischen Konzerten unter Furtwängler, die der Berliner RIAS in den Jahren 1947 bis 1954 aufzeichnete. Immerhin lagen dem Umschnitt die originalen Archivbänder zugrunde und nicht etwa Rundfunkmitschnitte wie in manch früherer Einzelausgabe.
Rundum ist diese Edition, die technisch hochwertig Sternstunden der Aufführungsgeschichte dokumentiert, eine Wucht. Welch ein Ereignis, der 25. Mai 1947, als Furtwängler nach dem Krieg mit einem reinen Beethoven-Programm erstmals wieder vor seinen Berlinern im Titania-Palast stand. Die Pastorale, vorgetragen mit einer wunderbaren lyrischen Feinnervigkeit, kombinierte er mit der Fünften, die Expansion vom schicksalhaften Kopfmotiv bis zur strahlenden Lichtwerdung im Finalsatz ebenso organisch wie zwingend gestaltend. Im September desselben Jahres trat auch der Geiger Yehudi Menuhin mit Beethovens Violinkonzert erstmals wieder vor die Philharmoniker welch ein Zeichen! Keine noch so erstklassige Studioaufnahme kann die Lebendigkeit dieses historischen Moments ersetzen, der von tiefster Hingabe und einer im Rondo spürbaren Aufbruchstimmung, einem hoffnungsfrohen Blick in die Zukunft getragen ist.
Und dann die ungeheure Dramatik in Schuberts Unvollendeter: Unheilvoller und schwerer klang nie eine Pauke wie in den beiden dokumentierten Konzerten aus den Jahren 1948 und 1953. Enorm, wie plastisch das auch eingefangen wurde. Die starken Erschütterungen setzen sich so vehement durch die Lautsprecher bis ins heimische Wohnzimmer fort, dass einen die Schwingungen körperlich angreifen; etwas Gnadenloses bricht sich Bahn, Tragik und Schwermütigkeit nehmen Dimensionen an, die Herzklopfen machen, und der Klang bleibt bei alledem kompakt.
In zweifacher Auslegung aus unterschiedlichen Jahrgängen liegen auch Aufzeichnungen von Beethovens Eroica und Brahms Dritter vor. Interpretatorisch liegen sie sowohl im leidenschaftlichen, spontanen Zugriff als auch im Tempo sehr dicht beieinander. Das überrascht eigentlich nicht, denkt man an die Weisheit von Furtwänglers Statthalter, Freund und Verehrer Sergiu Celibidache: Musik ist Wahrheit, es gibt nur eine. Daneben: einige kostbare Raritäten der gemäßigten Moderne von Blacher, Fortner und Hindemith sowie einige wenige Einstudierungen barocker Werke von Bach und Händel, jedoch dem damaligen Zeitgeschmack verpflichtet.
Eine Bonusscheibe mit einem Podiumsgespräch aus dem Jahr 1951, in dem der sonst so interviewscheue Furtwängler interpretatorische Fragen im Dialog mit dem Publikum erörtert, rundet die wertvolle, superbe Edition ab. Auf seiner Website stellt das Label noch weitere kostbare Hörproben aus der Diskussion und wissenswerte Details zur Restaurierungsarbeit der Tondokumente zum Download bereit.
Kirsten Liese