Thiel, Markus

Edita Gruberova

Der Gesang ist mein Geschenk

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter/Henschel, Leipzig 2012
erschienen in: das Orchester 11/2012 , Seite 76

Sie gilt als letzte Primadonna assoluta des Belcanto, die inzwischen 65-jährige Edita Gruberova. Markus Thiel schildert in allen Einzelheiten die schwierigen familiären und materiellen Verhältnisse, aus denen der spätere Gesangsstar abstammte. Der Vater war alkoholkrank, Geld war knapp. Aber dank ihres Ausnahmetalents und eiserner Disziplin schaffte die “slowakische Nachtigall”, die in Bratislava Gesang studierte, in drei Jahren den Sprung von einem kleinen mittelslowakischen Theater an die Wiener Staatsoper, wo sie als Königin der Nacht erstmals 1970 auftrat.
Mit der Zerbinetta in Straussens Ariadne auf Naxos, die sie 1976 zum ersten Mal in Wien sang, gelang ihr der internationale Durchbruch. Seither ist Edita Gruberova auf den renommiertesten Opernbühnen der Welt zu Gast. Markus Thiel schildert die Meilensteine dieser Sängerkarriere sehr detailliert, spart aber auch die Rückschläge und Niederlagen Gruberovas nicht aus, die privaten wie die künstlerischen. Und macht auf ihre große Ernsthaftigkeit, die enorme Professionalität, den Fleiß und das selbstbewusste Auftreten der Sängerin gegenüber Agenten, Intendanten und Regisseuren aufmerksam.
Vor allem ihrer stupenden stimmlichen Gestaltungs- und Ausdruckskraft widmet er viel Raum. Edita Gruberova verfügt über „eine Sopranstimme im perfekten Vordersitz, obertonreich, höhenstark, dazu extrem flexibel, perfekt fokussiert und stabil, mit einer Projektionskraft, die Töne unforciert bis in die letzte Galeriereihe“ des Theaters strahlen zu lassen. Gelernt hat sie ihre Technik bei Maria Medvecká, von Ruthilde Boesch wurde sie verbessert und von Gudrun Ayasse erhielt sie den letzten Schliff, so liest man. Eine Jahrhundertstimme ohne Vorbilder, auch wenn Gruberova den Ausdruck von Maria Callas, das ätherische Pianissimo von Montserrat Caballé und die Virtuosität von Joan Sutherland immer bewunderte.
Seit Gruberova 1978 ihre erste Wiener Lucia di Lammermoor sang, beschritt sie endgültig den Weg von der Koloratursopranistin zur Belcanto-Sängerin. Bei seiner Darstellung dieses ungewöhnlichen Wegs gestattet Thiel dem Leser manche kritischen Seitenblicke auf Dirigenten, Intendanten und Agenten. Den Gipfel ihrer Gesangskarriere erreichte Edita Gruberova 2003 mit ihrem späten Debüt als Norma. Ein ganzes Kapitel seiner Gruberova-Biografie hat Markus Thiel der langjährigen Erarbeitung dieser Partie gewidmet. Das schlichte Geheimnis, das hinter diesen extrem langen Berufsjahren steht, erklärt er mit ihrer klugen Beschränkung auf das ihrer Stimme gemäße Fach und mit dem richtigen Umgang mit den richtigen Gesangspartien zur richtigen Zeit. Markus Thiel hat die Karriere des Weltstars keineswegs anbetend, sondern mit großer Genauigkeit, musikalischer Fachkenntnis und biografischem Einfühlungsvermögen dargestellt.
Dieter David Scholz