Ingo Hoddick
Duisburg: China und Flamenco
Die neue Saison der Duisburger Philharmoniker hat klare Schwerpunkte
Begeistert entdeckte Gustav Mahler 1907 die gerade erschienene Gedichtsammlung Die chinesische Flöte, in der Hans Bethge mehr als 1200 Jahre alte chinesische Lyrik frei nachgedichtet hatte – seinerseits nach Übersetzungen ins Französische und dadurch mit vielen Fehlern. Bei der Vertonung ging Mahler mit den Texten wie immer ganz frei um und fügte sogar eigene Worte hinzu. Das im folgenden Jahr vollendete Ergebnis ist die legendäre Lied-Sinfonie Das Lied von der Erde, in einer Stunde und sechs Sätzen – eine charismatische Musik des Abschieds, der Weltflucht und der wehmütigen Erinnerung an eine vergangene Schönheit. Besonders „chinesisch“ ist das nicht, auch wenn Heterofonie und Pentatonik sowie „exotisch“ wirkende Instrumente wie Celesta, Mandoline und zwei Harfen in diese Richtung weisen. Immerhin lässt das Wort „ewig“ insbesondere am offenen Ende (harmonisch ein Dur-Dreiklang mit hinzugefügter Sexte) zumindest Sinologen an das chinesische Qi denken, den nie aufhörenden Energiefluss, jenes nicht sicht- oder fassbare Etwas, das doch alles zusammenhält und bewegt.
Im September eröffnete Das Lied von der Erde glänzend die neue Saison 2022/23 der Duisburger Philharmonischen Konzerte. GMD Axel Kober hatte die beiden Weltklasse-Gesangsstimmen Christa Mayer (Mezzosopran) und Klaus Florian Vogt (Tenor) sozusagen aus Bayreuth mitgebracht. Die schlichte Innerlichkeit ihres Vortrags, auch an den Stellen mit Spitzentönen und großer Geste, machte in der gut gefüllten Philharmonie Mercatorhalle besten Eindruck. Kober legte den Schwerpunkt seines Dirigats auf die Leichtigkeit und Durchsichtigkeit dieser Partitur, auf ihre farbenreiche Kammermusik für großes Orchester – und in den passenden Passagen auch auf die rücksichtsvolle Begleitung der beiden Gesangsstimmen. Die Duisburger Philharmoniker hatten damit alle Hände voll zu tun und strebten einen differenzierten Schönklang an. Die Tempi waren zügig, aber nur gelegentlich leicht übereilt wie in dem mit „Behaglich heiter“ überschriebenen dritten Satz „Von der Jugend“. Es gab bewundernswert plastisch erfasste Details zu hören, leider manchmal auch verschluderte Triolen. Die Projektionen der Duisburger Videokünstlerin Theresa Grünhage zeigten einige der ursprünglichen Gedichte in den originalen Schriftzeichen.
Das Besondere des Abends war aber die Uraufführung neuer Zwischenspiele von der 1983 in China geborenen und seit 2006 in Deutschland lebenden Yijie Wang für das von der Perkussionistin Lin Chen eigens gegründete und von der Dirigentin Kerou Liu geleitete „Five-Elements-Ensemble“, überwiegend aus traditionellen chinesischen Instrumenten. Es war auf einem erhöhten Podest rechts im Parkett postiert und bestand neben den beiden Genannten aus Mona Li an der Gu Zheng (das ist die chinesische Wölbbrettzither), Tzu-Ning Liao an der Er Hu (Kniegeige), Jiayi Shao an der Pipa (Laute), Michael Skelton an der Ruan (Langhalslaute), Yuxiao Chen (Bambusflöte), Beibei Wang (Perkussion) und Pengpeng Li an der Guqin (chinesische Griffbrettzither). Die Intermezzi sollten der Lied-Sinfonie einen etwas authentischeren Touch verleihen, wobei die Komponistin immer wieder Elemente aus dem Lied von der Erde aufgriff. Eines der Zwischenspiele unterbrach sogar an passender Stelle den halbstündigen letzten Satz „Der Abschied“. Die Brücke zum Sinfonieorchester bildeten zum einen westliche Instrumente wie Vibrafon im Ensemble, zum anderen immer wieder philharmonische Einzeltöne wie Liegeklänge des Solocellisten Friedemann Pardall. Die Intermezzi wirkten als erfrischende Abwechslungen, aber kaum als wesentliche Erhellungen für das Hauptwerk des Konzerts. Das Publikum reagierte sehr erfreut. Mit dem ersten Philharmonischen Konzert wurde zugleich die seit 40 Jahren bestehende Städtepartnerschaft zwischen Duisburg und Wuhan gefeiert, damals die erste zwischen einer deutschen Großstadt und einer chinesischen Metropole.
Erwähnt werden muss noch Duisburgs neue Artist in Residence (Gastkünstlerin), die 1980 in Granada geborene Mezzosopranistin und Flamencosängerin Marina Heredia. Höhepunkt ihrer Residency wird ihr Auftritt im zwölften Philharmonischen Konzert am 28. und 29. Juni 2023, mit der Uraufführung der von ihr angeregten sinfonischen Dichtung En Libertad! – El camino de los gitanos von Joan Albert Amargós und José Quevedo „Bolita“ über die Geschichte der spanischen Roma von ihrer Vertreibung aus Pakistan bis heute. Gastdirigent Josep Pons aus Spanien rahmt dies mit bereits bekannten und gleichfalls vom Flamenco inspirierten Werken, nämlich Alborada del gracioso von Maurice Ravel sowie Zwischenspiel und Tanz aus der Oper La vida breve von Manuel de Falla, den Danzas fantásticas op. 22 von Joaquín Turina und der Suite aus dem Ballett Estancia op. 8 von dem Argentinier Alberto Ginastera.