Roland Dippel

Erl: Drei fulminante Opern-Volltreffer

Die Tiroler Festspiele Erl glänzten mit Wagner, Rossini und Chaussons „König Arthus“

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 54

In ihrer abschließenden Pressemeldung zur Sommer-Runde 2022 bilanzierten die Tiroler Festspiele Erl künstlerische Triumphe und schlechte Verkaufszahlen. Das Publikum zögerte wegen der Pandemie, wegen des Kriegs, wegen der drohenden Energiekrise. Dabei war es schade um jeden leeren Platz. Denn Erl bietet viel für Opernenthusiasten: ein sehr gutes Orchester, eine achtsame Besetzungsstrategie und aufregende bis schöne Stücke. Jede Produktion hatte hohes Festspielformat. Das von Gustav Kuhn entwickelte Spielplan-Profil mit viel Wagner und Belcanto bewährt sich auch unter Bernd Loebe.
Den Anfang machte Die Walküre im 2021 begonnenen und später als Zyklus geplanten Ring des Nibelungen. Brigitte Fassbaender setzte ihre hochpräzise Regie von Richard Wagners vierteiligem Bühnenfestspiel fort. Bühnen- und Kostümbildner Kaspar Glarner gestattete sich einige textile Sichtvermerke an frühere Ring-Meilensteine. Chefdirigent Erik Nielsen lieferte im Passionsspielhaus mit dem atemberaubend schönen Alpenpanorama blühendes Melos und harsche Gewalt, aber auch die vielen Schattierungen dazwischen. Eine solide Sitzgruppe für das Ehepaar Hunding und Sieglinde, ein Schreibtisch für Wotans Machtkrisen-Zentrale sowie elementare Licht- und Videospiele (Jan Hartmann und Bibi Abel) reichen als Ambiente für Wagners „Reinmenschliches“ und anachronistische Göttlichkeiten. Mit langen Haaren gab Clay Hilley, der drei Wochen später als Siegfried-Einspringer für Stephen Gould die Bayreuther Götterdämmerung-Premiere retten wird, Siegmund als Rebell und sanften Frauenversteher. Fassbaender macht aus dem Liebesrausch mit der Zwillingsschwester eine zärtliche Moralrevolution. Irina Simmes’ Sieglinde war in idealer Kongruenz von Stimme, Spiel und Ausdruck. Nach vielen noblen Fricka-Sängerinnen der vergangenen Jahre gab Claire Barnett-Jones ein Comeback der frustrierten Matrone mit gesanglicher Hoheit. Simon Bailey gestaltete intensiv, wie und warum Wotan in berechtigter Endzeitstimmung bei seiner Lieblingswalküre Brünnhilde Trost und Nähe sucht. Christiane Libor lieferte in der Titelpartie lautstarke, kräftige Expression.
Die als Eröffnung geplante Premiere von Rossinis Bianca e Falliero verzögerte sich. Bereits 2020 hätte diese Belcanto-Orgie in Frankfurt und dann in Erl herauskommen sollen. Das auch hier hervorragende Orchester zelebrierte das fast dreistündige und geringfügig gekürzte Opus unter Simone Di Felice mit rhythmischem Feinschliff, elegischem Schimmer und nobler Delikatesse. Tilmann Köhler rückte Bianca in den Mittelpunkt einer emotionalen Regie, auch in den Videos von Bibi Abel. Am Ende bleibt offen, ob Bianca nach zahlreichen Misshandlungen nicht doch zur Attentäterin wird.
Die Erler Premiere geriet sogar noch besser als die imposante Frankfurter Aufführung im Februar 2022. Giovanni Battista Parodi (Capellio) machte sehr guten Eindruck, Maria Ostroukhova (Falliero) zeigte einen kultivierten, heroi­schen Mezzosopran. Die Stars waren Theo Lebow (Contareno) und Heather Phillips (Bianca), der man die überstandene Corona-Erkrankung nicht anhörte. Das virtuose und artistische Wachstum beider war immens. Phillips bewältigt den Koloratur-Aplomb und die Melancholie ihrer extrem anspruchsvollen Partie bewundernswert.
Die dritte Produktion wurde zu einem international gefeierten Höhepunkt. Wer Ernest Chaussons 1903 am Théâtre de la Monnaie in Brüssel uraufgeführtes Drame-lyrique Le roi Arthus im übertragenen Sinn als Richard Wagners vierzehnte Oper bezeichnen will, liegt nicht ganz falsch. Bei Chausson hört man die Instrumentationsfarben des Walkürenritts, der Liebesnacht Tristans und Isoldes und sogar die Askese-Rezepturen für Parsifal, Amfortas und Kundry. Aber statt einen Dialog über Weltzerstörungsabsichten wie Alberich und Hagen führen Arthus und der Zauberer Merlin ein Traumgespräch unter gescheiterten Philanthropen. Lancelot und Genièvre visionieren gleich zum Einstieg ein Paradies aus Zärtlichkeit und Rosenwunder. Erst danach beginnen die Konflikte zwischen Loyalität und Leidenschaft. Genièvre gerät fast zur Hysterie-Studie.
Auf der Bühne des Erler Passionsspielhauses erarbeitete man vor dem Riesenorchester ein­fache, wirkungsvolle Mittel. Ein Kreisgang in Schräge und eine runde Scheibe als Zeichen der Welt, der Tafelrunde und des Kosmos bildeten das Dekor. Die griechische Regisseurin Rodula Gaitanou gab den Figuren und Beziehungen deutliches Gewicht. Etwas zu schnell begann Karsten Januschke die martialischen Läufe des Vorspiels, vereinte dann einen nicht zu langsamen Fluss mit Ausdruck, epischer Emphase und Lust auf sangliche Melodik. Anna Gablers Sopran glühte in lasziver Coolness, Aaron Cawley gab einen Lancelot von intensiver Zerrissenheit und Domen Križaj den vor edler Bariton-Höhenenergie berstenden Arthus.
Im Tiroler Winter sind zum Jahreswechsel geplant Donizettis Don Pasquale und als Koproduktion mit der Oper Frankfurt die Belcanto-Oper Francesca da Rimini von Saverio Mercadante, die Fabio Luisi in Martina Franca 2016 zur posthumen Uraufführung gebracht hatte.