Varga, Bálint András

Drei Fragen an 73 Komponisten

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: ConBrio, Regensburg 2014
erschienen in: das Orchester 03/2015 , Seite 65

Für Rebecca Saunders war es ein Duett für Violine und Klavier von Galina Ustwolskaya, geschrieben 1964: „Ich fühlte mich betäubt, atemlos, und – als das Stück zu Ende war – in einen klanglichen Zustand versetzt, den ich zu diesem Zeitpunkt mit nichts vergleichen konnte. […] Die Klarheit und Reinheit des musikalischen Ausdrucks; eine unverhohlene Leidenschaft und Obsession; das faszinierte mich.“ Dieser Schlüsselmoment ereignete sich 1992, allerdings nicht, wie man glauben könnte, in einem Konzert, sondern durch eine CD. Die hatte Saunders’ Lehrer Wolfgang Rihm im Kompositionsseminar an der Musikhochschule Karlsruhe vorgestellt. Ähnliches berichtet Sándor Balassa. Der hörte in den 1960er Jahren Coral Island von Toru Takemitsu im Radio. Die Schönheit des Werks habe ihn „ziemlich aufgewühlt“, und er fühlte „eine brüderliche Verbindung mit seinem Urheber“. Das Erlebnis hatte beinah therapeutische Wirkung. „Es half mir, meine eigene Stimme zu finden.“ Von einem „Schock“ gar spricht Pascal Dusapin. Den versetzte dem damals Achtzehnjährigen Edgar Varèses Arcana: „Es war nicht meine Musik, die sich änderte (ich hatte ja noch gar keine geschrieben), sondern mein Leben. In den fünf Minuten nach diesem Erlebnis habe ich beschlossen, Komponist zu werden.“
„Welche Musik hat ihr Denken verändert?“, so lautet, etwas verkürzt, die erste von drei Fragen, die der ungarische Journalist und Musikherausgeber Bálint András Varga einer Reihe von Komponisten vorlegte. Allein mit den Antworten darauf hätte man ein Buch füllen können, doch Varga fügte noch zwei Fragen hinzu. „Ein Komponist ist von Klängen umgeben. Lassen Sie sich von diesen beeinflussen […]?“, lautet die eine und: „Inwieweit kann man von einem persönlichen Stil sprechen und wo beginnt die Selbstwiederholung?“, die andere. 73 Komponisten verschiedener Jahrgänge antworteten teils knapp, teils sehr ausführlich: belehrend, ironisch, melancholisch, weitschweifig, zugespitzt.
Und es ist gerade dieses breite Spektrum der ästhetischen Haltungen, welches das Buch ausgesprochen lesenswert macht. So gibt es beispielsweise auf die erste Frage auch Antworten, die nicht in die Kategorie „Erweckungserlebnis“ passen. „Ich glaube nicht“, schreibt etwa Luciano Berio, „dass ein Musiker – wie der Heilige Paulus auf dem Weg nach Damaskus – vom Pferd fallen und in den Bann einer plötzlichen Offenbarung geraten kann.“ Eben­so vielfältig die Reaktionen auf Frage zwei. Milton Babbitt interessierte sich nicht sonderlich für Geräusche der Umwelt und komponierte am liebsten beim „unmusikalischen Geräusch“ eines im Fernseher laufenden Football-Spiels. Auch Morton Feldman entdeckte Klänge immer nur „innen“. Dem Meer oder den Vögeln hingegen lauschen Toru Takemitsu oder György Kurtág, andere ihrer Kollegen formulieren subtile Zwischenstufen.
Varga bat zudem jeden Komponisten um eine Zeichnung, die seine Musik auf den Punkt bringt – ein grandioser Einfall. Der Leser wandert beim Lesen dieser Anthologie al­so zusätzlich durch eine kleine, überaus anregende Ausstellung. Den vielleicht pointiertesten Beitrag lieferte George Crumb. Zur Charakterisierung seiner Musik reichte ihm ein – Kreis. Der sagt mehr als tausend Worte.
Mathias Nofze