Bernd Aulich

Dortmund: Die Jüdin wird zum Spielball

Reichlich Dramatik entfachte Halévys Grand Opéra „La Juive“ in Dortmund nur jenseits der Bühne

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 49

Was für ein Drama. 16 Tage vor der Premiere von Fromental Halévys La Juive an der Dortmunder Oper schasste Intendant Heribert Germeshausen den Schweizer Regisseur Lorenzo Fioroni. Ihn wird man an Rhein und Ruhr nun erst im kommenden Mai im Düsseldorfer Opernhaus mit Massenets Hérodiade erleben. Dass Fiorini die Pogrom-Szene am Ende des zweiten Akts durch Nazi-Symbolik nah an die Pogromnacht von 1938 heranrücken wollte, kam in der Westfalen-Metropole nach dem Antisemitismus-Streit der Kasseler documenta nicht gut an.
Der Niederländer Sybrand van der Werf, durch die Uraufführung einer Jugendoper wenige Wochen später in Dortmund ohnehin unter Vertrag, sollte es nun richten. Die strittige Szene entschärfte er als düsteres imaginäres Geschehen, als Alptraum des von christlichen Antisemiten bedrängten jüdischen Goldschmieds Éléazar. Van der Werfs Personenführung in La Juive fiel so konventionell aus, dass die Dortmunder Produktion nur durch musikalische Qualität fesselt.
Am Premierentag drohte gar ein Totalausfall, als Bassist Karl-Heinz Lehner sechs Stunden vor der Aufführung absagte. Eilends alarmierte Intendant Germeshausen den hauseigenen Bassisten Denis Velev in Paris. Der jagte binnen sieben Stunden zurück und rettete die verschobene Aufführung. Für die hohe Tessitura des Kardinals de Brogni erwies sich der Bulgare als brillante Besetzung.
Mit großen Tableaus, raffinierten Ensembles, üppiger Harmonik und aufpeitschender Dramatik ist La Juive ein Paradewerk der französischen Grand Opéra mit ihrer verschlungenen Mischung aus gesellschaftskritischer Staatsaktion und intimem, innerem Konflikt. John Dew hat das Doppelbödige 1994 während seiner Dortmunder Intendanz auf leergeräumter schwarzer Bühne zwingend gemeistert.
Nicht mal einen Abklatsch davon bietet die bis auf den vierten Akt durchgängig öde Szene nun. Dafür gibt’s kitschige Interventionen wie einen überdimensionierten Blumenkranz beim Jubelfest im dritten Akt mit hin und her geschobenem passablem Chor auf schal weißem Bühnengeviert (Bühne: Martina Segna und Sybrand van der Werf) oder das Martyrium der vermeintlichen Jüdin Rachel, die hier nicht in siedendem Wasser, sondern am Kreuz im Strahlenglanz ihr Leben aushaucht.
Umso prächtiger, schlüssiger und fesselnder gewinnt Gastdirigent Philipp Armbruster der präzis ausgelauschten Musik des Cherubini-Schülers dramatischen Aplomb ab. Mit geteilten Streichern und ruppig enervierenden Pizzicati faszinieren die überragenden Dortmunder Philharmoniker in intimer Vertiefung wie im großen Ausbruch.
Zur Uraufführung 1835 in der Pariser Salle de la Rue Le Pelletier und zur Eröffnung des Palais Garnier 1875 geriet La Juive zum Knaller mit üppigem Schauwert. Wie befremdend banal wirkt in Dortmund hingegen der Auftritt der Häscher in der Uniform einer Polizeihundertschaft oder die hinterlassenen Spraydosen im Kerker der empor gefahrenen Unterbühne. Hier, im vierten Akt, ahnt man etwas von der konfliktträchtigen Verstrickung des Juden Éléazar mit Kardinal de Brogni, dessen verschollene, ahnungslose christliche Tochter er als Jüdin aufzieht. Den innerlich zerrissenen Éléazar, Paradepartie der größten Tenöre, meistert Mirko Roschkowski nach leichter Nervosität zu Beginn mit Bravour. Denis Velev findet als Kardinal subtile Töne. Und im Dreieckskonflikt mit dem eher farblosen Tenor Sungho Kim als christlichem Feldherrn Leopold und vorgeblich jüdischem Maler triumphieren die Albanerin Enkeleda Kamani in der Koloraturpartie der Prinzessin Eudoxie als Gattin und die famose Barbara Senator mit faszinierenden Zwischentönen in der Titelpartie der als Spielball der Macht verratenen, vorgeblich jüdischen Geliebten mühelos. Musikalisch knüpft Dortmund damit an die Wiederentdeckung von Ernest Guirauds und Camille Saint-Saëns Frédégonde und die Pandemie-Produktion von Aubers La Muette de Portici an, die nur eine Handvoll Kritiker erleben durfte.