Dmitrij Schostakowitsch

Doppeltes Spiel/Symphonie Nr. 5

Eine Hörbiografie von Jörg Handstein. Gelesen von Udo Wachtveitl & Ulrich Matthes/Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Ltg. Mariss Jansons

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: BR Klassik
erschienen in: das Orchester 6/2022 , Seite 75

Von Jörg Handstein liegen bereits zehn Komponisten-Hörbiografien vor, jetzt Dmitrij Schostakowitsch. Mit profundem Quellenstudium – nicht unbedingt aktuell, aber konzis gewählt – wie auch einer musikalischen Empathie bricht Handstein das Leben und Schaffen des Sowjetrussen auf zehn Kapitel herunter. Wie im Flug vergehen die knapp vier Stunden: ein bewegender Hörkrimi auch dank der Rezitation von Udo Wachtveitl als Erzähler und Ulrich Matthes als Schostakowitsch. Vieles wird angesprochen, was allgemein noch immer wenig bekannt ist – zumal musikalisch.
So zitiert das Hauptthema des Streichquartetts Nr. 13 den wortlosen Trauerchor aus der Filmmusik zu König Lear, beide von 1970. Es sind gerade auch solche Intertextualitäten, die die „Doppeldeutigkeit“ des als Volksfeind verfolgten und als Volksheld gefeierten Komponisten begründen: ein Doppeltes Spiel eben. Natürlich kann nicht alles gleichermaßen gelingen. So erklingen aus der Symphonie Nr. 8 von 1943 der Kopf- und Finalsatz, nicht aber die unheilvoll stampfende, grell aufschreiende Toccata des dritten und die klagende Passacaglia des vierten Satzes – obwohl doch gerade sie Krieg und verrohte Gewalt besonders deutlich auf den Punkt bringen.
Auch zur Fünften von 1937 – zusätzlich in voller Länge dokumentiert als bereits veröffentlichter  Livemitschnitt von 2014 durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung ihres 2019 verstorbenen Chefdirigenten Mariss Jansons – gäbe es manche Anmerkungen. Vieles dreht sich um die Finalapotheose. Angstvoll stottern die Streicher und das metallische Klavier immerzu das A. Die Trompeten schmettern grellste Fanfaren, und die Pauken fixieren immerzu die Grundtonart – am Ende zusätzlich verstärkt durch die große Trommel. Das Hörbuch zitiert die Ende der 1970er Jahre im Westen veröffentlichten, bis heute kontroversen Schostakowitsch-Memoiren von Solomon Volkov, um auf den „Jubel unter Drohung“ zu verweisen. Ähnlich sahen das auch Zeitzeugen wie Mstislaw Rostropowitsch oder Kurt Sanderling. Letzterer war bei der Moskauer Erstaufführung 1938 zugegen.
Als Erster hat Sanderling in Moskau Anfang der 1950er Jahre das Tempo im Finale deutlich  zurückgenommen, was das Brutale unterstreicht. Laut Augenzeugen war Schostakowitsch sehr angetan von dieser Sicht. Das Spannende: Die alte sowjetische Gesamtausgabe schreibt im Finale ein rascheres Tempo vor, die neue auf Grundlage der Originalskizzen ein langsameres. Für seine Sicht war Sanderling seinerzeit massiv attackiert worden.
Leider spart das Hörbuch all das aus, obwohl das richtige Zeitmaß eben auch zum „Doppelten Spiel“ bei Schostakowitsch gehört. Dafür aber erzählt Jansons mit der BR-Truppe die Geschichte der Fünften ohne Effekthascherei. Nichts wird forciert, alles glasklar entschlackt – was den Horror umso plastischer verlebendigt. Ein starkes Vermächtnis!
Marco Frei