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Corina Kolbe

Doppelrolle nach Wiener Vorbild

Die Filarmonica della Scala feiert im Januar 40-jähriges Bestehen

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 1/2022 , Seite 41

„Wenn es die Wiener getan haben, warum solltet ihr es nicht auch tun?“ Während der ersten Japan-Tournee der Mailänder Scala im September 1981 kam der Stein ins Rollen. Claudio Abbado, damals Musikdirektor am Haus, regte bei einem Abendessen mit Musikern die Gründung eines unabhängigen, demokratisch verwalteten Sinfonieorchesters an. Vorbild waren die Wiener Philharmoniker, deren Mitglieder zugleich festangestellte Musiker des Staatsopernorchesters sind.
Abbados Idee, das Profil der Scala im Bereich der Sinfonik zu schärfen, fiel auf fruchtbaren Boden. Schon wenige Monate später schlug im traditionsreichen Opernland Italien die Geburtsstunde der Filarmonica della Scala. Mit der 3. Sinfonie von Gustav Mahler feierte das Orchester am 25. Januar 1982 ein vielversprechendes Debüt. Im breitgefächerten Repertoire Abbados spielte Mahler schon lange eine wichtige Rolle. Mit dessen 2. Sinfonie war dem Dirigenten 1965 ein fulminanter Einstand an der Scala und kurz darauf bei den Salzburger Festspielen gelungen.
Der Cellist Marcello Sirotti, der Ende 1981 fest an das Theater kam, erinnert sich noch gut an die Aufbruchstimmung im Orchester. Er und seine Kollegen hätten förmlich darauf gebrannt, ihr musikalisches Spektrum zu erweitern, um sich auch mit den Wiener und den Berliner Philharmonikern messen zu können „Es war so, als würde ein Ozeandampfer ablegen. Alle stürmten voran, um an Bord zu kommen. Wir ahnten, dass etwas Wichtiges im Gang war. Wohin die Reise genau führen würde, stand aber noch nicht fest.“
Der Arbeitsrhythmus der Musiker veränderte sich. Die Scala hatte schon vorher eine kleinere sinfonische Saison. Da das Opernorchester dieses Repertoire nicht auf internationalen Tourneen präsentierte, blieb es damit im Ausland weitgehend unbemerkt. Sinfoniekonzerte bildeten bis dahin eine Art Rahmen für die traditionell am 7. Dezember beginnende Opernsaison, die jeweils im Frühsommer endet. Die Filarmonica knüpfte nun an das Erbe Arturo Toscaninis an, der auch als Konzertdirigent in die Geschichte eingegangen ist.
Abbado verbrachte nicht allzu viel Zeit mit dem neuen Orchester, bereits 1986 verabschiedete er sich in Richtung Wien. Diese ersten Jahre seien aber fundamental gewesen, meint Sirotti: Abbados Kernrepertoire, zu dem auch die Werke von Anton Bruckner zählten, liege den Musikern bis heute im Blut.
Auch andere Dirigenten hatten seit den frühen Jahren großen Einfluss auf die Filarmonica. Die Aufführungen der Sinfonien von Johannes Brahms unter Carlo Maria Giulini wird Sirotti wohl nie vergessen. Giulini führte das Orchester außerdem auf seine ersten Auslandstourneen. Die Liste renommierter Dirigenten, die sich seither am Pult der Filarmonica abwechseln, ist lang. Sie reicht von Georges Prêtre, Wolfgang Sawallisch, Leonard Bernstein und Giuseppe Sinopoli bis zu Semyon Bychkov, Franz Welser-Möst, Valery Gergiev, Daniele Gatti oder Gian­andrea Noseda. Anders als die Wiener Philharmoniker hat die Filarmonica della Scala schon länger einen festen Chefdirigenten. Dieser Posten wurde 1987 für Riccardo Muti geschaffen, der bis 2005 zugleich Musikdirektor am Opernhaus war. Ihm folgte Daniel Barenboim, seit 2015 übt Riccardo Chailly diese Doppelfunktion aus.
Schon 1983 konstituierte sich die Filarmonica nach Wiener Vorbild als Verein. Die aus Musikern bestehende Mitgliederversammlung wählt seitdem den Verwaltungsrat. Dessen erster Präsident war der damalige Scala-Intendant Carlo Maria Badini. Sein Stellvertreter, der laut Satzung immer ein Musiker des Orchesters sein muss, war der Geiger Giacomo Pogliani. Die Konzerte wurden in den folgenden Jahren jeden Sonntagvormittag von Fernsehsendern der privaten Mediaset-Gruppe übertragen und erreichten damit eine größere Öffentlichkeit. Durch eine Änderung des Vereinsstatuts wurde 1991 das Amt des Scala-Intendanten von dem des ­Orchesterpräsidenten getrennt. Auf den Posten rückte Mediaset-Präsident Fedele Confalonieri nach, der später gemeinsam mit Muti dem Theater den Rücken kehrte.
Das Verhältnis zwischen der nun gänzlich autonomen Filarmonica und dem Opernhaus wurde 1994 in einer neuen Übereinkunft geregelt. Demnach überlässt das Theater dem Sinfonieorchester für seine Konzerte den Saal und stellt die Musiker für Tourneen während der Spielzeit frei. Im Gegenzug übernimmt die Filarmonica ohne Kostenausgleich durch das Theater die Konzerte der sinfonischen Scala-Saison. Bis heute finanziert sich die Filarmonica ausschließlich durch Beiträge privater Partner und Sponsoren.
Der Schweizer Etienne Reymond, der auch die Konzerte von Lugano Musica verantwortet, ist seit vergangenem Sommer künstlerischer Leiter der Filarmonica della Scala. Sein langjähriger Vorgänger Ernesto Schiavi wechselte vor vier Jahren zum Sinfonieorchester der RAI. Reymond, der unter Abbado und Muti als Inspizient und Korrepetitor an der Scala arbeitete, erinnert sich noch gut an die Anfangsjahre, etwa an eine herausragende Aufführung von Modest Mussorgskis Bilder einer Ausstellung mit Georges Prêtre. „Ich glaube, dass sich das Spielen von Opern und sinfonischem Repertoire gegenseitig positiv beeinflusst. Das Zuhören, das man im Orchestergraben lernt, bringt sehr viel für die Sinfonik“, sagt er.
In diesem Januar feiert die Filarmonica ihr 40-jähriges Bestehen mit einem Jubiläumsprogramm. Der Klangkörper kann auf mehr als 1600 Konzerte zurückblicken, davon rund 600 während Auslandstourneen. Zur Saisoneröffnung am 24. Januar erklingen unter Leitung von Chailly unter anderem die Feuervogel-Suite von Igor Strawinsky, die 5. Sinfonie von Peter Tschaikowsky und ein neues Auftragswerk von Giorgio Battistelli. In weiteren Konzerten sind ebenfalls Uraufführungen kurzer Stücke von Komponisten wie Carlo Boccadoro, Ivan Fedele und Nicola Campogrande vorgesehen. Es sei seine Idee gewesen, damit ein Zeichen für das Jubiläum zu setzen, erklärt Reymond. Seit Abbados Zeiten ist zeitgenössische Musik mit der Scala fest verwurzelt. Unter Chailly wolle man auch verstärkt das große italienische Repertoire aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts pflegen.
Großgeschrieben wird außerdem die Musikvermittlung, etwa im Rahmen des Schulprojekts „Sound, Music!“. Auf dem Domplatz findet jedes Jahr vor circa 50000 Zuschauern ein „Concerto per Milano“ statt, das im In- und Ausland übertragen wird. Während der Corona-Pandemie kam das Orchester sogar zu seinem Publikum nach Hause: Kleinere Ensembles traten gleichzeitig in verschiedenen Innenhöfen in Mailand auf. Für Reymond eine fantastische Initiative: „Die Filarmonica befand sich zwar nicht an einem Ort, trat aber trotzdem zusammen auf.“

 

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