Otto Paul Burkhardt

Donaueschingen: Flirts mit der Popkultur

Ausklang der Ära Björn Gottstein: Die Donaueschinger Musiktage 2022 zwischen Diskurs und Beat

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 01/2023 , Seite 54

Es war ein Festival des Übergangs: Konzipiert wurde es noch von Ex-Festivalchef Björn Gottstein und die seit März amtierende neue Festivalchefin Lydia Rilling wird folglich erst 2023 das Programm prägen. So verströmten die Donaueschinger Musiktage 2022 ein Gefühl des Dazwischen: hier Abschiedsstimmung, dort Hoffnung auf bald neue Impulse. Digitaler soll das Festival werden, kündigte Rilling an, mit mehr Akzent auf kollaborativen Schöpfungsprozessen. Eine Vorahnung davon gab der jährlich hier verliehene Preis des SWR Symphonieorchesters, der an Agata Zubels Stück Outside the Realm of Time ging. Die Komponistin sang in diesem von Marcel Proust inspirierten, mit dem Orchester entwickelten Stück zum Thema Erinnerungen selbst mit, per Hologramm oder Großvideo, als Rebellin in Leder, als Operndiva in Glitzerrobe oder als Lady mit bluesigem Timbre. Insgesamt präsentierte sich das Festival nach dem großen 100-Jahr-Jubiläum wieder im Normalumfang. Die Bilanz: 11 Konzerte, 26 Uraufführungen und immerhin 6500 Besucher:inen.
Beim Auftakt mit dem SWR Symphonieorchester unter Pascal Rophé gibt sich Martin Schüttlers i wd leave leaf & dance als gigantisches Puzzle aus unzähligen Klangschnipseln zu erkennen, das mit Beats und Popzitaten ins Außereuropäische strebt. Eher ironisch-provokant auf der Stelle tritt Thomas Meadowcroft in Forever Turnarounds, einer opulent jazzigen Studie zum Stichwort „Deep Easy Listening“, die hollywoodfilmreif durch den Quintenzirkel swingt.
Das Finale mit dem SWR-Orchester unter Bas Wiegers blickt mit Malika Kishinos Wolkenatlas zum Himmel – auf die dort vorbeiziehenden Gebilde im vergänglichen Wandel zwischen ruhigem Schweben und dramatischem Grollen. In Arnulf Herrmanns Ein Kinderlied entführt eine knisternde historische Aufnahme von 1943 ins Reich des Schlafes, wobei das Orchester einen gespenstischen Tanz der Dämonen träumt. Und Peter Ruzickas Eingedunkelt kreist enigmatisch um ein Celan-Gedicht: zeitgeistferne, feinfühlige, von Wiegers ins Flirren gebrachte Musik, bei der Carolin Widmanns expressiver Violinsolopart die menschliche Stimme verkörpert.
Exemplarisch für die im Festival angerissenen Dekolonisierungs-Diskurse steht Hannah Kendalls shouting forever into the receiver, eine bittere, vom Ensemble Modern eindrücklich realisierte Collage, die, vemittelt über Klangchiffren und Spieluhrgeklimper, das Leid der Sklaven mit der Blüte der Wiener Klassik konfrontiert. In weiter und weiter und weiter … von Georg Friedrich Haas, einem 45-Minuten-Accelerando, evoziert das Ensemble gar den beklemmenden Horror einer Welt, die wahn- und sogartig dem Abgrund entgegentaumelt. Erst am Ende zeigt Haas, indem die Musizierenden wie in Haydns Abschiedssymphonie sukzessive die Bühne verlassen, die Möglichkeit eines Ausstiegs.
Flirts mit der Popkultur? Bestes Beispiel ist Dirk von Lowtzows Auftritt mit dem New Yorker Talea Ensemble. Der Tocotronic-Frontmann performt Hyper-Dub, sein kleines Poem über Berlin-Reminiszenzen zu Sounds von Iris ter Schip­horst, gleich selbst – eine surreal raunende Flugfantasie „mit den Fledermäusen über die Siegessäule“ zurück in eine vergangene Zukunft.
Wohin geht die Reise? Insgesamt hat Björn Gottstein das Festival behutsam geöffnet und im rasanten Wechsel der Trends versucht, neue Glutkerne zeitgenössischer Musik zu entdecken. Noch ein Blick voraus: Zum Festivalauftakt 2023 plant Lydia Rilling ein mit dem SWR-Orchester entwickeltes Stück, konzipiert von einer der großen Frauen abseits des Mainstreams: der dann 91-jährigen Elektronik-Pionierin Éliane Radigue.