Lucy Simon
Doktor Schiwago
Musikalische Komödie Leipzig, Ltg. Christoph-Johannes Eichhorn
Sämtliche Vorstellungen der deutschen Erstaufführung an der Musikalischen Komödie Leipzig waren 2018 ausverkauft. Als Erfolg erwies sich das Musical der Grammy-Preisträgerin Lucy Simon (geb. 1943) seither auch in Lüneburg und Pforzheim. Das Textbuch von Michael Weller ist eigentlich noch besser als die Musik, die sehr auf Wirkung kalkuliert ist.
Simon findet für jede Situation einen stimmigen Ton und zeigt kompositorisch den untrüglich richtigen Instinkt für wirkungskräftige Effekte, vor allem bei der Titelgestalt. Es gibt also weitaus mehr Kraft- als Samttöne. Nicht nur die Bühne der Leipziger MuKo, auch die CD wurde so vor allem zur großen Stunde von Jan Ammann in der Rolle des philanthropischen Poeten Jurij Schiwago, ein Mann zwischen der missbrauchten und gebrochenen Lara (Lisa Habermann) und der gutbürgerlichen Tonia (Hanna Mall). Man merkt es dieser Einspielung kaum an, dass Simon mit dem Buch lange gerungen hat. Der Roman erschien 1957 im westlichen Ausland, aber erst 1988 in Russland; 1958 erhielt Boris Pasternak dafür den Literatur-Nobelpreis. Auf Simons erste Fassung für San Diego 2006 folgte Doctor Zhivago – A New Musical mit Vorstellungsserien in Australien (2011), Seoul (2012), Helsinki (2013), am Opernhaus Malmö (2014) und – mit 23 Vorstellungen wenig erfolgreich – am Broadway. Mit dem opportunistischen und dabei schillernden Viktor Komarovskij (Cusch Jung), diesem tiefschwarzen Engel, der Jurij finanziell und Lara körperlich ruiniert, weiß Lucy Simon nicht sonderlich viel anzufangen. Und ganz ohne die berühmte „Schiwago-Melodie“ will sie auch nicht auskommen: Maurice Jarres Evergreen erklingt als „Volksmelodie“ der weiblichen Landbevölkerung. Ohne tatsächlich einen ganz großen melodischen Wurf zu landen, fühlt sich Simon in amourösen Gefühlsregionen sicherer als bei der klanglichen Ausgestaltung militärischer und historischer Aktionen. Die Einspielung vertraut ihrer großflächigen Anlage und malt mit sattem Pinsel. Christoph-Johannes Eichhorn, seit 2013 Koordinierter Kapellmeister und Solorepetitor der Musikalischen Komödie Leipzig, hat keinerlei Skrupel und lässt Emotionen triumphieren – die dadurch etwas austauschbar geraten. Nur Jan Ammanns perfekte Darstellung dringt hinter das Abbild eines Prachtkerls aus dem Musical-Katalog und zu einer charakterisierenden, bewegenden Aussage. Partitur und Wiedergabe zelebrieren rauschhaftes Ausgeliefertsein in aufbrandenden Fortissimo-Wogen, die Simon mehr beflügelte als die einzelnen Handlungsetappen. Als Folge des perfektionistisch ausladenden Sounddesigns von Holger Hammelmann unterscheiden sich die beiden Hauptdarstellerinnen Lisa Habermann und Hanna Mall nicht mit der nötigen kontrastierenden Schärfe, wie das in der Inszenierung möglich war. Unterbelichtet bleibt leider durch die Dramaturgie des Stücks auch Björn Christian Kuhn als Sowjet-Revolutionär Pavel. Für Musical-Enthusiasten ist diese Einspielung unterm Strich dennoch ein opulenter Gewinn, der auch ohne visuelle Zusätze bestens funktioniert.
Roland Dippel