Fernando Lopes-Graça

Divertimento/Sinfonieta

Portuguese Symphony Orchestra, Ltg. Bruno Borralhinho

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Naxos
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 71

Dürftig ist allgemein unsere Kenntnis der Musikkultur Portugals, die sich keineswegs im städtischen Fado, dem melancholischen Liedgesang zur Gitarre, erschöpft. Die ländlichen Volkslieder sind heiter und bedeutend älter. Das Konzertleben bei Hofe und das Opernschaffen zu Lissabon vor und nach dem Erdbeben von 1755 harren der Wiederentdeckung. Erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts trat eine auch im Ausland wahrgenommene Komponistengeneration auf den Plan. Neben Rui Coelho und Frederico de Freitas erscheint Fernando Lopes-Graça (1906–1994) als ihr fruchtbarster Vertreter. Überdies trat er als Schriftsteller und streitbarer Republikaner hervor.
Nach dem kostenlosen Unterricht durch einen trefflichen Lehrer auf dem Klavier des kleinen väterlichen Hotels in Tomar, wurde er 1923 vom Konservatorium in Lissabon aufgenommen. 1928, noch während seiner Studienzeit, gründete er in seiner Heimatstadt ein Kampfblatt gegen die kürzlich errichtete Diktatur des Landes. Als Antifaschist von öffentlichen Lehrämtern ausgeschlossen und sogar inhaftiert, emigrierte er 1937 nach Paris, wo er unter anderem bei Charles Koechlin studierte. Statt der in Portugal akademisch gehüteten Idee einer volksmusiknahen Tonkunst erstrebte er nun eine Art Osmose zwischen modernem Tondenken (Schönberg, Strawinsky, Bartók) und tradierten Tonfällen seiner Heimat. Eine dritte Schaffensphase deutet sich nach 1960 an: Vermeidung erkennbarer folkloristischer Anklänge, Erweiterung der tonalen und rhythmischen Spielräume.
Der zweiten Stilperiode entstammen die Cinco Velhos Romances Portugueses op. 98 (Fünf alte portugiesische Romanzen, 1951/56) für Orchester. Ihnen liegen mündlich überlieferte (mutmaßliche) Troubadour-Balladen zugrunde, damals in abgelegenen Regionen Portugals noch erinnert und von Frauen gesungen. In die gleiche Schaffenszeit fällt das ebenso farbenfrohe wie kurzweilige Divertimento op. 107 (1957) für Bläser, Schlagzeug, Violoncelli und Kontrabässe, komponiert als Hintergrundmusik für den portugiesischen Pavillon der Weltausstellung in Lausanne: sieben knappe Sätze in leicht verfremdetem „Volkston“, darunter Intrada, Choral, Fandango und Ekloge. Die späte Sinfonietta op. 220 (1980), eine Hommage an Haydn, lässt sich als Synthese seines Musikdenkens ansprechen. Gaio (fröhlich, doch mit Scharfsinn), die Bezeichnung des dritten Satzes mit Zitat aus Haydns Sinfonie Nr. 100 Militaire, trifft den Grundcharakter des ganzen Werks.
Unter Leitung des Dirigenten und Cellisten (und Mitglieds der Dresdner Philharmonie) Bruno Borralhinho, der das Programm mit Quatro Invenções op. 148 (Vier Inventionen, 1961) für Violoncello solo virtuos abschließt, blüht das Portugiesische Sinfonieorchester leidenschaftlich auf.
Lutz Lesle