Lord, Jon

Disguises

Suite for String Orchestra, revised and edited by Paul Mann, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, mainz 2014
erschienen in: das Orchester 10/2015 , Seite 67

Dass die Musik von Deep Purple auch unter traditionell geschulten Musikern viele Anhänger hatte und hat, ist sicher großteils auf das Orgelspiel Jon Lords zurückzuführen, obwohl dessen klassischer Background den wenigsten Hörern bekannt gewesen sein mag. Die musikalische Spannung zwischen ihm und dem Gitarristen Richie Blackmore machte diese Band zu einer der herausragendsten der Rockmusikgeschichte.
Dass Lord früh anstrebte Komponist zu werden, zeigt sein Concerto for Rock Group and Orchestra aus dem Jahr 1969, in dem die Band den Solisten ersetzt. Dem Dirigenten der damaligen Uraufführung, Malcolm Arnold, setzt er mit der Widmung seiner Orchestersuite Disguises aus dem Jahr 2003 ein Denkmal. In dieser porträtiert Lord drei Personen, im ersten Satz Malcolm Arnold, mit dessen Initialien er im Titel „M.A.sque“ spielt, im zweiten seine Mutter Miriam in ihren späten Jahren, im abschließenden einen namentlich nicht genannten Freund, der, so Lord, Clownereien mit Tiefgang verband.
Das spezifisch Persönliche überführt Lord in musikalisch allgemein Zugängliches, in klar konturierte Gesten. Der Beginn ist durch schroffe Gegensätze gekennzeichnet, melodische Entwicklungen werden durch perkussive Akkordschläge unterbrochen, der Tanzcharakter des Sechsachteltakts wird durch unregelmäßige Akzente und Taktwechsel gefährdet. Assoziationen an Schostakowitsch oder Bartók werden wach, doch meist orientiert sich die Tonsprache an englischer Neoromantik und den Filmpartituren Bernard Hermanns.
Der Mittelsatz ist ein verkapptes Violinkonzert. Auf ältere Stücke zurückgreifend verarbeitet Lord ein einfaches diatonisches Thema, das auch zu liedhaft-pastoralen Passagen geformt wird. Das burleske Finale entfaltet verschiedenste Ausprägungen eines scharf akzentuierten Themas, unterbrochen von einem ruhigen Mittelteil. Die Tonalität in Lords Musik ist häufig diatonisch, wird aber auch offen und frei gehandhabt.
Disguises ist kompositions- und klangtechnisch sehr spezifisch für Streichorchester angelegt. Dynamisch, rhythmisch und im Zusammenspiel warten auf gute Orchester anspruchsvolle Aufgaben. Die Stimme der ersten Violine liegt zum Teil sehr hoch. Insgesamt werden keine ungewöhnlichen Spieltechniken verlangt. Die Studienpartitur ist aufgrund des sehr kleinen Notenbilds nicht leicht lesbar. Das Vorwort von Jon Lord ist im englischen Original abgedruckt, nicht aber dasjenige des Herausgebers Paul Mann, der mehrere Aufführungen dieser Suite dirigiert und auch eine Aufnahme von ihr vorgelegt hat. Jon Lord, der 2012 71-jährig starb, schrieb in seinen letzten Jahren eine Reihe von Konzertstücken, Disguises verdient aufgeführt zu werden.
Christian Kuntze-Krakau