Fischer-Dieskau, Martin
Dirigieren im 19. Jahrhundert
Der italienische Sonderweg
Wussten Sie, dass man bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Italien die dortigen Opern mit zwei Dirigenten leitete? Diese überraschende Dirigiertradition und seine Loslösung, davon erzählt Martin Fischer-Dieskau in einem ungemein spannenden, detailgetreuen Buch. Und wer könnte ein solch spezielles Thema seriöser und kompetenter aufarbeiten als ein Mann, der Chefdirigent und Dirigierprofessor war und sich zudem als Musikwissenschaftler mit diesem Buch promoviert hat?
Fischer-Dieskau beleuchtet zunächst die historisch gewachsene Doppeldirektion zwischen dem Maestro al Cembalo und dem Primo Violino Direttore dorchestra, also das von Rivalitäten bestimmte Binnenverhältnis zwischen Klavierkapellmeister und Konzertmeister. Dabei gelingt es dem Autor, trotz aller sprachlichen Detailgenauigkeit einen faszinierenden Erzählstil zu generieren, der den Leser in jene ungemein spannende Epoche der Operngeschichte Italiens führt, in der es noch keine gewachsenen Autoritätsstrukturen von Dirigenten im heutigen Sinne gab. Dass Fischer-Dieskau im Rahmen seiner Darstellungen auch entsprechende Traktate der deutschen Tradition streift (Carl Philipp Emanuel Bach oder Johann Mattheson), taucht das rätselhafte Phänomen, warum Errungenschaften der allein herrschenden Dirigenten wie Spohr oder Mendelssohn südlich der Alpen ignoriert wurden, in ein diffuses Licht.
In Italien jedenfalls, so Fischer-Dieskau, ist ein autonomes Dirigat bei der Opernleitung eindeutig viel später anzutreffen, und die ersten Dirigenten mussten sich dann ihre Autorität noch peu à peu und mühsam
erarbeiten. Der Durchbruch hin zur ordnenden Hand des Alleindirigenten erfolgt jedenfalls erst von etwa 1860 an, nun jedoch mit Macht und mit der Folge, dass in die entstandene Lücke schnell bedeutende Dirigentenpersönlichkeiten hineinwachsen konnten, die der Autor mit entsprechenden Kurzporträts würdigt. Hierbei fällt vor allem Angelo Marini auf, der mit seiner modernen Dirigiertechnik als der wohl erste Dirigent mit Weitblick einzuordnen ist. Besonders aber die Geschichte, wie dieser Angelo Marini sich für die Aufführung der Oper Lohengrin des Deutschen Richard Wagner in Italien einsetzt und sie zum Erfolg führt, zeigt, wie wenig europäisch das Musikempfinden noch Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen sein muss.
Martin Fischer-Dieskaus bestechendem Buch ist die Erkenntnis zu verdanken, dass sich historische Quellen zur Aufführungspraxis nicht nur auf das 18. Jahrhundert beschränken müssen. Vielmehr lenkt er den Fokus auf die Musizierumstände zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Wäre es da nicht einmal an der Zeit, eine italienische Oper aus der Zeit zwischen 1800 und 1850 mit einer Doppeldirektion aufzuführen? Dann aber bitte nicht, ohne dieses Buch vorher genau gelesen zu haben.
Thomas Krämer