Interview: Marco Frei

Dirigenten sollten Ermöglicher sein

Johanna Malangré spricht über ihren Beruf, ihre Haltung und ihre Ziele

Rubrik: Thema
erschienen in: das Orchester 02/2022 , Seite 14

Sie kennt keine Berührungsängste. Für ihren charis-matischen Dirigierstil wurde Johanna Malangré genauso ausgezeichnet wie auch für ihre Programme und ihre breitgefächerte Musikvermittlung. Ab September 2022 wirkt die gebürtige Kölnerin als Chefdirigentin beim Orchestre National de Picardie in Frankreich. Zuvor hatte sie bereits im Rahmen der Lucerne Festival Academy von sich reden gemacht. Seit 2019 wirkt sie zudem als Musikdirektorin am Hidalgo-Festival in München. Wer ist diese junge Dirigentin, und wie steht sie zum Thema Verantwortung?

Von Bernard Haitink stammt der Ausspruch, als Dirigent ein Luftsortierer zu sein. Claudio Abbado strebte hingegen mit Orchestern eine gleichberechtigte Partnerschaft aus dem Geist der Kammermusik an. Andere sind „Ausdrucksdirigenten“, die alles ausdirigieren. Wieder andere wissen genau, was sie wollen, können aber auch die Zügel locker lassen: so Mariss Jansons. Wo sehen Sie sich, Frau Malangré?
Johanna Malangré: Im Idealfall ist man ein bisschen von allem. Was mich am Dirigieren so fasziniert, ist diese ganz besondere, intensive Art der Kommunikation. Der pure, nonverbale Austausch mit den Orchestermusikern wie auch gleichzeitig das Führen eines Kollektivs fasziniert mich als Mischung. Wie Sie Abbado beschreiben, ­gefällt mir: weil Dirigenten Ermöglicher sein sollten. Jedenfalls möchte ich das. Ich wünsche mir stets, dass die Musiker ihr absolut Bestes geben können und noch ein bisschen mehr.

Sie sprechen also durchaus von Führung?
Ja, natürlich. Die Führung ist wichtig, weil dieses große Schiff Orchester, dieser Ozeandampfer, eine Voraussicht braucht. Am Pult steht eine Person, die das große Ganze im Blick hat, plant und steuert, sodass alle in den jeweiligen Positionen ihren Teil dazu beitragen können.
Oft ist von einer neuen Dirigier-Generation die Rede, die sich nicht mehr als „Taktstock-Autokraten“ versteht. Nun waren verstorbene Dirigenten wie Haitink, Abbado oder Jansons keine „Taktstock-Autokraten“, dagegen ist eine autoritäre Persönlichkeit wie Christian Thielemann im Alter viel jünger als diese. Ist die Haltung wirklich eine Frage der Generation oder nicht eher der jeweiligen Persönlichkeit?
Ich denke schon, dass sich insgesamt das Arbeitsklima verändert hat – und damit meine ich generell unsere Gesellschaft. Allein wie die Menschen früher zur Arbeit oder in die Proben gegangen sind: Da gab es niemanden, der nicht in Anzug und Hemd erschienen ist. Das ist mir bei einem älteren Probenmitschnitt unter Georg Solti wieder aufgefallen.
Heute ist das nicht mehr der Fall. Ich bin überzeugt davon, dass die Position des Dirigenten grundsätzlich eine Führungsposition ist, in der man Verantwortung übernimmt und diese auch trägt. Gleichzeitig bin ich auch davon überzeugt, dass diese Verantwortung nicht heißt, alles ganz alleine zu machen. Dirigenten sollten Räume oder den Rahmen schaffen. Diesen Rahmen kann man groß halten oder klein. Das hängt von vielen Faktoren ab, auch vom Personalstil des Dirigenten.

Sind im Umkehrschluss Abbado, Haitink oder Jansons in ihren Haltungen viel jünger als ein Thielemann?
Das ist mir zu pauschal. Wenn man genau hinschaut und hinhört, stellt man übrigens fest, dass Haitink in der Sache durchaus autoritär war. Ich habe in Zürich an Meisterkursen mit ihm teilgenommen. Haitink war unmissverständlich in dem, was er von den Orchestern einforderte. Für mich war er ein Dirigent, der mit einer persönlichen Demut dem jeweiligen Werk gegenübergetreten ist. Das hat ganze Musikergenerationen stark beeinflusst. Bei Thielemann fällt mir wiederum auf, dass er den Einzelnen oft viel Freiheit gibt. Wenn ich das Bild vom Orchester als Ozeandampfer aufgreife, so ist Thielemann wirklich in der Lage, eine Bruckner-Sinfonie bis zum Schluss genauestens durchzudenken und präsent zu sein. Damit erschafft er Bögen wie nur wenige.

Begegnen Sie Musikern auf Augenhöhe?
Ich hoffe, dass ich allen Menschen stets mit größtem Respekt begegne. Von vornherein bringe ich eine große Wertschätzung für die Arbeit mit, die Orchestermusiker leisten – und für die Kompetenzen, die sie mitbringen. Wie gesagt: Dirigieren ist und bleibt eine Führungsposition oder eine Position, in der man den Rahmen schafft; aber natürlich in dem Sinn, dass die Musiker ihre Fähigkeiten ganz ausschöpfen und entfalten können.

Nun gibt es auch Frauen am Pult, die eher als herrisch gelten: etwa Simone Young. Manche Orchestermusiker nennen sie eine „männliche Dirigentin“. Könnte das der Tatsache geschuldet sein, dass Frauen meinen, beweisen zu müssen, dass auch sie es wie ihre männlichen Kollegen können – gerade in der Generation von Young?
Nun, vielleicht hat das weniger mit den Dirigentinnen zu tun, sondern ist eine Frage der Wahrnehmung und der Erwartungshaltung von außen? Mein Gedanke zu „Frauen am Pult“ ist mehr: Das Dirigieren ist eine sehr physische Angelegenheit. Ich denke nicht, dass das bei Männern und Frauen komplett gleich ist. Frauen müssen sich damit auseinandersetzen, wie man mit der Körperlichkeit des Dirigierens umgeht – mehr als ihre männlichen Kollegen. Darauf muss jede Frau für sich eine Antwort finden. Das scheint mir eine echte Herausforderung.

Oft heißt es, in Orchestern seien Frauen die größten Gegner von Frauen am Pult. Stimmt das?
Ich kann nur aus meinen Erfahrungen berichten und habe solche Hindernisse generell ohnehin noch nie erlebt. Was ich immer erlebe: Sobald man dort steht und die Musik erklingt, geht es um die Sache an sich.
Wie sind Sie selbst zum Dirigieren gekommen?
Ich erinnere mich sehr gut an mein allererstes Konzert, das ich in der Kölner Philharmonie erlebt habe. Es war die Matthäus-Passion. Ich war sehr klein, aber schon damals hat der Dirigent auf mich eine große Faszination ausgeübt. Ich hatte das Glück, in einem Elternhaus groß zu werden, wo wir ein Instrument erlernen durften und konnten. Unsere Eltern haben uns zu vielen Konzerten mitgenommen. Dieser Organismus Orchester hat einen ungeheuren Sog auf mich ausgeübt. Ich wollte in der Mitte des Orkans sein – in diesem Wunder des Klangs.

Sie haben in Zürich bei Johannes Schläfli studiert. Im deutschsprachigen Raum lebt wohl niemand eine derartige Parität der Geschlechter in seiner Dirigierklasse. Wäre Ihre Laufbahn anders verlaufen, wenn Sie an einen „Klassiker“ geraten wären, der Frauen am Pult eher belächelt?
Mein allererster Dirigierlehrer, in Deutschland seinerzeit ein renommierter Professor, hatte mir bei einem unserer ersten Zusammentreffen gesagt: Er glaube nicht, dass Frauen den Willen zur Führung hätten. Ich erwiderte ihm: „Das ist mir egal. Unterrichten Sie mich bitte.“ Das hat er getan. Seine Einstellung war mir herzlich egal, weil das ein fantastischer Unterricht war. Da war ich knapp zwanzig.

Andere wären daran zerbrochen.
Vielleicht hat das mit meiner Erziehung zu tun. Den Gedanken, mein Frausein könnte ein Hindernis darstellen, gab es einfach nicht. Von daher habe ich solche Episoden nie ernst genommen. Es gab diesen Sog in mir. Das wollte ich einfach. Zu Schläfli möchte ich behaupten, dass sich Johannes für junge, interessante Dirigier-Persönlichkeiten interessiert und diese finden möchte. Das ist seine klare Priorität. Er ist jemand, der es auf erstaunliche Art und Weise vermag, den Studierenden in dessen Eigenheit zu sehen und zu unterstützen.

Welche Erfahrungen waren sonst noch wichtig für Sie?
Ein Meilenstein ist meine Stelle als Chefdirigentin des Orchestre National de Picardie in Frankreich, die ich im September 2022 antrete. Eine so enge, langfristige Beziehung mit einem Orchester pflegen und gleichzeitig das musikalische und kulturelle Leben einer ganzen Region mitgestalten zu dürfen, ist für mich eine wunderschöne Aufgabe. Auch meine Verbindung zur Lucerne Festival Academy, zunächst als Conducting Fellow und dann als Assistenzdirigentin, hat mich geprägt. Luzern hat mein Verständnis von zeitgenössischer Musik stark beeinflusst. Außerdem war es von unschätzbarem Wert, durch die Fülle an herausragenden Musikern, Orchestern und Dirigenten in die internationale Musikwelt einzutauchen. Meine Erfahrung als Dirigierstipendiatin der Bergischen Symphoniker möchte ich ebenfalls nicht missen. Ein Wendepunkt war der Meisterkurs bei Paavo Järvi 2018 in Estland.

Inwiefern?
Mich hat das zum Nachdenken gebracht, was mich an der Musik konkret interessiert und was ich für eine Musiker-Persönlichkeit bin. Warum und wozu mache ich das? Nach dem Meisterkurs mit Järvi habe ich aktiv damit begonnen, mich mit Programm-Konzepten zu beschäftigen. Daraus folgte meine Tätigkeit als Musikdirektorin am Hidalgo-Festival in München, unter der Schirmherrschaft von Bariton Christian Gerhaher. Wir haben ein Orchester gegründet und mir ist klar geworden, dass ich Klassik greifbar machen möchte.

Wie meinen Sie das?
Oft steht in der klassischen Musik die intellektuelle Seite, die sehr reich und faszinierend ist, im Vordergrund. Bei Hidalgo ist das anders. Es geht gar nicht um eine Vereinfachung oder Leugnung der Komplexität von Klassik in dem Sinne, dass man sich nur von „Emotionen mitreißen“ lässt. Aber wir möchten dort die physische Unmittelbarkeit der Musik betonen. Wir lassen das Publikum ganz nah ans Orchester heran, damit es die körperliche Kraft des Musikmachens auf der Bühne erlebt. Diese immersive Erfahrung interessiert mich.

Haben Sie als junge Frau am Pult gewissermaßen einen Vorteil, wenn es um andere, neuartige Wege der Klassikvermittlung geht?
Das kann ich nicht sagen, weil ich ja aus meiner eigenen Haut nicht herauskann. Ich bin als Mensch die Person, die ich bin – mit alledem, was mich ausmacht. Meine eigenen Erfahrungen fließen stets ins Musizieren mit ein. Es ist mir ein Anliegen, Menschen für klassische Musik zu gewinnen – und ich finde es noch spannender, wenn man dafür abenteuerliche Wege einschlägt.

Ob Festivals, Orchester, Konzert- oder Opernhäuser: Die Musikwelt dreht sich derzeit stark um das Thema Frauen am Pult. Ist das für Sie nur ein PR-Gag oder ehrlich gemeint?
Es gibt derzeit eine erhöhte Aufmerksamkeit und das ist nicht verkehrt. Ich glaube aber, dass sich das irgendwann wieder legen wird. Es mag sein, dass auch PR dabei eine Rolle spielt. Was letztlich zählt, ist zum Glück, was auf der Bühne passiert. Dort zeigt sich einfach die Qualität. Das ist es, was bleibt.

Sollten Sie Chefdirigentin eines international gefragten Orchesters im deutschsprachigen Raum werden: Würden Sie für eine Frauenquote an bestimmten Führungspositionen oder bei den Blechbläsern plädieren?
Wichtiger noch als die Frage nach der Quote fände ich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das hat ganz viele Aspekte, die endlich nicht mehr nur die Frauen betreffen. Wie können Familie und ein oder zwei berufstätige Elternteile aufgehen? Wie können Institutionen das ermöglichen? Da geht es nicht nur um das Schaffen neuer Kitaplätze, sondern auch darum, dass die Eltern beide Teilzeitstellen antreten können; dass genügend Flexibilität besteht, um Kinderkrankentage wahrzunehmen und Ähnliches.

Sie selbst sind Mutter. Ihr Ehemann ist Orchestermusiker. Unterstützt er Sie?
Ich denke, es ist mehr, als lediglich zu unterstützen oder zu helfen. Wir teilen als Ehepaar das ganze Leben miteinander und tragen gemeinsam die Verantwortung für unsere Familie.
Was würden Sie Frauen raten, die sich vor ein Orchester stellen möchten?
Es geht gar nicht darum, sich selbst vor ein Orchester zu stellen, sondern um die Musik und die Partitur – um die Sache. Wir sind verpflichtet, die Musik, die konkrete Arbeit an der Partitur und die Qualität der Aufführung in das Zentrum zu rücken. Gerne möchte ich empfehlen, was mir der unlängst verstorbene Dirigent Gianluigi Gelmetti bei einem meiner ersten Meisterkurse gesagt hat: „Testa fredda, cuore caldo“ – kühler Kopf und warmes, leidenschaftliches Herz. Das empfinde ich als schöne Maxime für diesen Beruf. Jedenfalls lebe ich das als Dirigentin.

 

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