Shchedrin, Rodion

Diptych

für Violine solo

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2006
erschienen in: das Orchester 06/2006 , Seite 80

Der 1932 in Moskau geborene Rodion Shchedrin gehört zu den erfolgreichsten und meistgespielten Komponisten seiner Generation. Sein Ballett Carmen Suite findet sich im Spielplan vieler Opernhäuser und ist – konzertant aufgeführt – fester Bestandteil des Repertoires bekanntester Orchester. Shchedrin hat sich immer sehr bewusst als russischer Künstler empfunden. Opern und Ballette nach Literaturvorlagen Tolstois, Tschechows und Nabukovs, russisch-liturgische Chorgesänge, Vertonungen von Gedichten Ossip Mandelstams, in Klang gesetzte russische Märchen und Ereignisse der russischen Geschichte sind beredte Zeugnisse seines kulturell-musikalischen Selbstverständnisses.
An Violinwerken kennen wir bereits ein folkloristisch angehauchtes Concerto cantabile für Violine und Streichorchester, das effektvolle Doppelkonzert (Violine und Trompete!) Concerto parlando, die Menuhin-Sonata für Violine und Klavier, Duets für Violine solo sowie einige meisterhafte, wirkungsvolle Miniaturen, denen er jetzt mit Diptych eine weitere hinzufügt. Das Stück entstand 2004/05 und ist, wie bereits die Menuhin-Sonata, dem russisch-amerikanischen Geiger und Dirigenten Dmitry Sitkovetsky gewidmet.
Ein Diptych ist ein Kunstwerk bestehend aus zwei miteinander verbundenen bzw. aufeinander bezogenen Teilen, in diesem Falle einem gemächlichen, improvisatorisch anmutenden „Amoroso“ und einem lebhaften, motorisch geprägten „Capriccio“. Beide Stücke zeigen typische Eigenheiten und Qualitäten von Shchedrins Kompositionsstil: eine quasi semi-tonale, durchaus eingängige Tonsprache, eine lebendige Motivik, einen spannungsvollen Aufbau, Reichtum an Kontrasten, wirkungsvolle Politur. Geigerisch gesehen ist das „Amoroso“ gänzlich unproblematisch, und auch das „Capriccio“ dürfte, obschon virtuos anspruchsvoller (u.a. einige Quint- und Quartpassagen), einem Profi wenig Schwierigkeiten bereiten.
So weit, so gut. Alles paletti? Vielleicht nicht ganz. Wenn ich hier eine leise Reserve anklingen lassen muss, so liegt das wohl an der Erwartungshaltung, mit der man jedem neuen Werk eines bedeutenden Meisters wie Shchedrin begegnet, der seine eigenen Maßstäbe setzt. So gesehen erscheint mir die vorliegende Komposition um ein Weniges blasser geraten als beispielsweise Balalaika und Im Stile von Albéniz, das musikalische Material weniger prägnant-plastisch, die Ausführung perfekt, gekonnt-routiniert, gleichwohl im Gesamtresultat nicht ganz so originell und inspiriert wie sonst. Man lasse sich aber durch diese Anmerkungen bitte nicht davon abhalten, Diptych zu spielen. Auch ein – vielleicht – etwas weniger farbig geratener Shchedrin ist immer noch ein Shchedrin und damit sicherlich interessanter als mancher Kilometer ansonsten beschrifteten Notenpapiers.
Herwig Zack