Dimitar Nenov
Piano Concerto/Ballade for piano and orchestra
Ivo Varbanov (Klavier), Royal Scottish National Orchestra, Ltg. Emil Tabakov
Wären nicht Pantscho Wladigerow und seine Rhapsodie Wadar (1922) oder aktuell Emil Tabakow mit der Einspielung seiner eigenen Sinfonien beim Label Toccata Classics, so bliebe bulgarische Musik ein weißer Fleck im internationalen Konzertleben. Das war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts völlig anders, doch zu Zeiten des Kalten Krieges wurden die Komponisten des Balkanlandes im Westen ignoriert, und nach 1989/90 änderte sich wenig.Da fällt es ins Gewicht, wenn Tabakow jetzt zwei repräsentative und großartige Werke von Dimitar Nenow (1901-1953) als Erstaufnahmen präsentiert und ins Bewusstsein zurückholt. Denn Nenow gehörte gemeinsam mit Wladigerow, Marin Goleminow, Ljubomir Pipkow und Wesselin Stojanow zu jener Generation bulgarischer Komponisten, deren Werke weltweit bekannt wurden. Das zeigt sich in seinem Schaffen ebenso wie in seiner Biografie und seinem außergewöhnlichen Talent. Unterrichtet wurde er zuerst von der Mutter und dem berühmten bulgarischen Pianisten Andrej Stojanow, dann studierte er in Dresden, Bologna und in Polen Architektur, Klavier, Musiktheorie und Komposition. Vielseitig war auch sein Wirken: Konzertauftritte in ganz Europa und 1949 Jurymitglied beim Internationalen Chopin-Wettbewerb in Warschau; erster Musikredakteur bei Radio Sofia und Gründer des Rundfunkorchesters (1930), Folklore-Sammler, Musikschriftsteller, Mitbegründer der Gesellschaft für zeitgenössische Musik (1933), und auch als Architekt war er kreativ. Doch ab 1944, in der Volksrepublik, wurde Nenow negiert. Er erlebte Anfeindungen und Demütigungen und erst 1952 mit der Verleihung des Dimitrow-Staatspreises eine Rehabilitation.Nach seinem Tod erklangen die beiden Sinfonien und Oratorien, die Konzertstücke und Gesangszyklen nur noch selten, und das Aufführungsmaterial für die vorliegende Aufnahme wurde erst dank der Initiative des in London lebenden bulgarischen Pianisten Ivo Varbanow gedruckt. Dieser hat sich mit seiner großen Tat für Nemow auch den eigenen großen Auftritt verschafft: Denn das 45-minütige Klavierkonzert (1932-36) wie auch die Ballade Nr. 2 für Klavier und Orchester (1943) verlangen Herausragendes von den Interpreten.Der Solopart steht der Kompaktheit und Virtuosität von Tschaikowsky und Rachmaninow in nichts nach. Die variantenreiche, vielgliedrige, verspielt wirkende Architektur, die im Detail wie in der drei- bzw. einsätzigen Gesamtanlage konsequent sonaten- und bogenförmig entwickelt wird, braucht Spannkraft und Schattierungsvermögen. Und die Synthese aus klassischen Gestaltungsmitteln, modernen Klängen und Elementen der Folklore, die als Idylle und Tanz, als Choral und Militärmarsch, in komplizierten bulgarischen Taktarten und taktlosem modalen Melos und Ornamenten erscheinen, fordert ein Höchstmaß an Gespür und Fantasie, um dieser Vitalität, Farbenfreude und Ausdrucksfülle gerecht und Herr zu werden. Es sind starke Impulse, denen sich die exzellente Aufführung wie auch der deutliche Akzent verdankt, den sie im Repertoire setzt.
Eberhard Kneipel