Alex Ross
Die Welt nach Wagner
Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne
So wie Laurence Senelick schon im Vorfeld des Offenbach-Jahres 2019 ein Buch publizierte, das Offenbachs enorme Wirkungsgeschichte am Beginn der Moderne in den Fokus nahm, hat jetzt Alex Ross eben dies „in Sachen Wagner“ versucht. Schon Friedrich Nietzsche schrieb 1888 in seiner polemischen Schrift Der Fall Wagner: „Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache. […] Wagner resümiert die Modernität.“
Alex Ross geht es vor allem um den Einfluss eines Musikers auf Nicht-Musiker der Moderne, den er im Fall Wagner für einzigartig hält. Um das zu belegen, spannt der Autor einen großen Bogen vom Wagnerismus des Kaiserreichs und des Fin de Siècle über die beginnende Moderne, die Zeit des Ersten Weltkriegs und der Naziherrschaft bis zu den Literaten, bildenden Künstlern und Filmemachern der Zeit nach 1945. Zu kurz kommt die Musik. Sie war es doch, mit der Wagner die musikalische Moderne eingeläutet und ein neues Kapitel der Operngeschichte geschrieben hat.
Ross, der sich zwar in der englischsprachigen Wagner-Literatur gut auskennt, offenbart aber empfindliche Lücken in der deutschsprachigen, die Wesentliches zur Aufarbeitung der Ideologie und Wirkung Wagners beitrug. Er wirft zitatengespickte Schlaglichter auf Wagners Leben und Werke, deren Titel zur Gliederung der 15 Kapitel herhalten müssen. Ross verurteilt einerseits das „backshadowing“, also die Angewohnheit, die deutsche Geschichte als unumkehrbaren Marsch in den Abgrund zu betrachten; auch die Gefahr der ständigen Koppelung von Wagner mit Hitler, weil sie dem „Führer“ einen späten Triumph verschaffe, den er nicht verdiene. Andererseits bezeichnet Ross Richard Wagner als „Protonazi“ und erklärt ihn zum Gegenpol der modernen Kultur. Das ist der Grundwiderspruch des Buchs, in dem man leider nichts Neues erfährt.
Am Ende schreibt der Autor: „Man muss den Menschen Wagner oder seine Musik nicht lieben, um das atemberaubende Ausmaß seiner Leistung zu erkennen.“ Den Nachweis dieser Leistungen haben aber längst andere Autoren erbracht. Ross bekennt: „Wenn wir Wagner betrachten, schauen wir in einen Vergrößerungsspiegel der menschlichen Seele. In der Ferne erhaschen wir vielleicht einen flüchtigen Blick auf ein erhabenes Reich, einen glänzenden Tempel, eine Ekstase des Wissens und des Mitleids.“
Dieser Herzenserguss ist bezeichnend für die Arbeit von Alex Ross. Mit Wissenschaft hat das nicht viel zu tun. Es ist die historische Hemdsärmeligkeit und subjektive Gefühligkeit, mit der der Autor, seit 1996 Musikkritiker des New Yorker, sich seine ganz persönliche, äußerst subjektive Sicht auf Wagner von der Seele schreibt. Sie aber macht die Lektüre dieses Wälzers nicht unbedingt lesenswert.
Dieter David Scholz