Maria Kostakeva

Die Welt klingt

Neue Musik und Naturprozesse

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau
erschienen in: das Orchester 03/2020 , Seite 61

Wer bei diesem Buchtitel an klangmalende Mimesis von Naturereignissen in der Musik (Blitz und Donner, Sturm und Regen, Vogelstimmen und Schlachtenlärm etc.) denkt, wird schnell eines Besseren belehrt, da es hier um sehr viel grundlegendere Phänomene der Klangerscheinungen und des Naturzustands der Materie von Musik geht. Die naturwissenschaftlichen Umbrüche der Neuzeit im Hinblick auf das Verständnis von Raum und Zeit, die Strukturierung komplexer Vorgänge im Spannungsfeld von Chaos und Ordnung, Stabilität und Instabilität werden hier reflektiert und dienen als Orientierungsmarken bei der Erschließung einzelner Werke der Neuen Musik.
Vor dem Hintergrund von Gehirnforschung, Quantenphysik, Chaostheorie und fraktaler Geometrie verlaufen die Reflexionslinien, die naturwissenschaftliche Denkweisen und Formen philosophischer Theoriebildung aufgreifen, um entsprechende Prinzipien bei der Klanggestaltung und Strukturbildung in Werken der neueren Musikgeschichte verständlich zu machen. Dabei wird versucht, die Triade Mensch–Natur–Musik der ästhetischen Orientierung zugrunde zu legen, um das neue Denken, wie es sich in den Naturwissenschaften und kognitiven Theorien zeigt, exemplarisch auf einzelne Werken übertragen zu können.
Das geschieht in sieben thematisch klar umrissenen Kapiteln mit drei Interludien. Darin stehen drei Naturphänomene im Mittelpunkt: Klang, Zeit/Raum und die Energie in der Transformation des Klangmaterials. Einführend geht es um Neue Musik und deren Selbstreflexion und die „spirituelle Revolution“ einer neuen Weltsicht. Es folgen Reflexionen zur Transformation des Klangmaterials, zur Beziehung von Chaos und Ordnung, zur rhizomlabyrinthischen Wucherung von Zeit und Raum und zur Komplexität selbstorganisierter Systeme. Das Schlusskapitel widmet sich dem Labyrinth des Schöpferischen und der seelischen Topografie des Unbewussten.
Die vielfach untergliederten Kapitel bestehen im Grunde aus vielen kurzen Essays über ästhetische, philosophische und kompositionstheoretische Fragen anhand analytischer Beschreibungen von Werken u. a. von Debussy bis Bernd Alois Zimmermann, Iannis Xenakis und Karlheinz Stockhausen, Adriana Hölszky, Nicolaus A. Huber, Edgard Varèse, Luigi Nono, Helmut Lachenmann, Beat Furrer und Giacinto Scelsi.
Die unkonventionelle Herangehensweise an Musik als Naturprozess bietet eine anregende und zugleich auch recht anspruchsvolle Lektüre. Zahlreiche den Kontext erhellende Abbildungen und eine Fülle von (oft zu kleinen und daher nur illustrierenden) Notenbeispielen zeichnen die sehr ansprechende Buchgestaltung mit Werk-, Sach- und Personenregistern aus – sieht man von vereinzelt entstellter Namensschreibungen bei Penderecki oder Ligeti ab. Es könnte ein Schlüsselwerk zum interdisziplinären Verständnis einzelner Strukturprinzipien der Neuen Musik werden.
Wilfried Gruhn