Fedosejev, Vladimir

Die Welt der russischen Musik

Aufgezeichnet von Elisabeth Heresch und Wilhelm Sinkovicz

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Edition Steinbauer, Wien 2013
erschienen in: das Orchester 04/2014 , Seite 67

Was ist es, das die russische Herkunft einer Musik selbst für den Uneingeweihten erkennbar werden lässt? Was ist das spezifisch Russische daran? Vladimir Fedosejev, Leiter des renommierten Moskauer Tschaikows­ky-Sinfonieorchesters, versucht im Gespräch mit dem österreichischen Musikwissenschaftler Wilhelm Sinkovicz Antworten darauf zu geben. Dabei sind wir dann schnell bei der vielberufenen „russischen Seele“. Für Fedosejev geht es dabei „zunächst einmal um die Tiefe – also um stark empfundene Gefühle. Das ist eine Frage des Charakters. Das russische Volk trägt mehr Lyrik in der Seele als manch andere Völker.“ Das klingt schon alles ein bisschen esoterisch. Und gerade mit der „besonderen“ lyrischen Seele der Russen mag der Leser so seine Probleme haben. Was ist denn dann – so möchte er fragen – mit Heine, mit Baudelaire, mit Petrarca, mit Byron, was mit Baczynski und Szymborska, mit Celan, Ausländer, Pablo Neruda und vielen, vielen anderen in der ganzen Welt, die ja nicht nur für sich selbst dichteten, sondern sich sowohl synchron als auch diachron noch einer oft recht umfangreichen Rezipientenschaft erfreuen?
Fragwürdigkeiten vorgenannter Art machen zum Glück nicht das ganze Buch aus. Immerhin gelingen dem Autor einige bemerkenswerte Komponistenporträts (etwa jenes von Borodin, von Mussorgskij, vor allem aber jenes seines „Hausgottes“ Schostakowitsch), weist er auf einige im Westen völlig unbekannte und dringend noch zu entdeckende Komponisten hin (Alexej Werstowskij, Gawril Popow, Georgij Swiridow, Wladimir Rubin) und deckt auch manch überraschenden Tatbestand auf. Etwa die musikalischen Metamorphosen, die Lehárs Lustige Witwe als Hitlers Lieblingsoperette in Schostakowitschs siebter Sinfonie und von hier aus in Béla Bartóks Konzert für Orchester durchlaufen hat.
Fedosejev ist ein Kulturpessimist durch und durch, und in vielem kann man ihm einfach nur resigniert zustimmen. So, wenn er sich über den kaum noch stattfindenden schulischen Musikunterricht als eines offenbar internationalen Phänomens auslässt. So, wenn er die Häppchen-Musik kritisiert, wie sie zunehmend von den Medien anstelle ganzer Werke angeboten wird. So, wenn er allgemein die „Amerikanisierung“ unserer (also auch der russischen) Kultur an den Pranger stellt.
Wo er freilich den Kulturverfall auf den Rückgang von Religion und Religiosität zurückführt, vermögen wir ihm nicht mehr so ganz zu folgen; dafür haben deren Exponenten und Mitläufer zu oft gerade mit jenen Mächten kooperiert, die eine freie Kulturentfaltung brutal unterdrückt haben. Siehe Hitler. Siehe Stalin. Auf diesem Auge ist der Autor blind, und seine Einschätzung einer besonderen Kulturblüte in Nazi-Deutschland auf der einen, in den Stalin’schen Säuberungsjahren auf der anderen Seite erscheint doch äußerst problematisch.
Friedemann Kluge