Albrecht von Massow

Die unterschätzte Kunst

Musik seit der Ersten Aufklärung

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau
erschienen in: das Orchester 05/2020 , Seite 63

Was ist Musik? Mathematik oder Ausdrucksspiel? Ist sie ein Regelwerk-Konstrukt oder doch in ihrem Wesen Freiheit und Gefühlsbekundung eines Individuums? Ist sie nur sich selbst verpflichtet als Mittel von Schöngeisterei oder doch Spiegel von Zeit, gesellschaftlichen Verhältnissen und Politik? Begnügt sie sich mit einer Bestimmung von Wohlfühlästhetik oder hat sie doch den Anspruch aufrüttelnder Kritik? Und was darf und kann sie sein, speziell nach der Ersten Aufklärung?
In diesem Buch geht es um Elementares zur Ehrenrettung der Musik, in dem Sinn, dass ihr eine Fähigkeit und eine Macht innewohnt, den Menschen in seiner Lebensgestaltung als mündigen Menschen zu unterstützen. Massow wird von dem Gedanken geleitet, dass dieses Potenzial ein wenig aus dem Blick gerückt ist bei der Einordnung der Bedeutung von Musik.
Da die Aufklärung nun mal ein Meilenstein in einer neuen Bewusstseinswerdung des Menschen und seiner Vernunft, Emanzipation und Mündigkeit war und demzufolge auch Einfluss auf die Weiterentwicklung der Musik hatte, ist das ein guter Punkt auf der Zeitachse der Geistesentwicklung, um eine solche Betrachtung aufzubauen. Aber der Untertitel von Massows Buch gibt nur eine Linie vor, die weniger zeitliche Grenze als vielmehr Dreh- und Angelpunkt der Untersuchungen ist. So wird der Umgang mit musikalischen Systemen bereits in Kompositionen Dufays genauer beleuchtet. Bach erfährt anhand seiner Kantate Wachet auf, ruft uns die Stimme eine Differenzierung von Traditionsentwicklung und Traditionensynthese, bevor es später zu Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono geht.
Wer hat sich über Ordnungssysteme hinweggesetzt und damit einer neueren Einfachheit Platz gemacht? Was ist dabei herausgekommen? Sicherlich auch eine künstlerische Freiheit, die Gegenstimmen und Gegenbewegungen hervorgerufen hat. Aber das war schon in voraufklärerischer Zeit der Fall, nur dass früher die Abhängigkeiten an äußere Umstände enger waren: Musik im Dienst ihrer Auftraggeber und deren Bedürfnisse im Wandel der Zeit.
Und so hatte die Musik mit der allmählichen Loslösung von Klerus- und Adelsansprüchen bereits einen Teil ihrer Freiheit gewonnen. Doch damit gilt es umzugehen. Besteht nicht die Freiheit im Kehrschluss des Missverständnisses von Vereinfachung auch in der Chance des künstlerisch schaffenden Wesens gerade darin, sich bestehende Formen und Ordnungen nutzbar zu machen, um sie in einer eigenen Sprache zu einer neuen Ausdrucksebene zu führen? Überhaupt Sprache. Die Frage stellt sich: Ist Musik Sprache oder nur sprachähnlich?
Die umfangreiche Schrift bereitet viele Ansätze auf. Aber was das Buch lesenswert macht, ist die grundpositive Sichtweise von Musik und ihrem Potenzial als integrale Kunstform für ein selbstbestimmtes Leben. Denn unabhängig davon,
ob man Musik als „Wissenskunst“ oder „Suggestionskraft“ betrachtet, gibt sie dem Menschen im Kant’schen Sinn die Möglichkeit selbst zu entscheiden, wo und auf welche Weise er mit ihr etwas beginnen oder enden möchte.
Sabine Kreter