Erich Wolfgang Korngold

Die tote Stadt

Jonas Kaufmann (Tenor), Marlis Petersen (Sopran), Andrzej Filonczyk (Bariton), Jennifer Johnston (Alt), Mirjam Mesak (Sopran), Corinna Scheurle (Mezzosopran), Manuel Günther (Tenor), Dean Power (Tenor), Bayerisches Staatsorchester, Ltg. Kirill Petrenko

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: Bayerische Staatsoper Recordings
erschienen in: das Orchester 1/2022 , Seite 79

Die Bayerische Staatsoper ist ein Haus von Weltruf und hat im Nationaltheater überdies einen Raum, dessen die Höhen akzentuierende, klare und sehr tragfähige Akustik für Ton- und Videoaufnahmen ideal ist. Sogar zwei exponierte Nebenrollen, die bei der Premiere von Die tote Stadt nicht ganz den gewünschten Erfolg hatten, klingen in der Aufzeichnung vom Dezember 2019 ausgezeichnet. Das Bayerische Staatsorchester zeigt sich in Topform. Kirill Petrenko vermengt die bizarren Licht- und Schattenflächen des zum Zeitpunkt der Komposition 22-jährigen Erich Wolfgang Korngold faszinierend. Die Mischungen von Streichern, Harfe, Klavier gelingen so bravourös wie die subtilen erotischen Jagdgründe und Flächenmalereien am Rand der Tonalität. Und natürlich locken Korngolds Lied-Schlager von 1920 – morbide, lasziv, sinnlich.
Mit sieben Kamerapositionen ging die Aufnahmedirektorin Myriam Hoyer ans Werk. Simon Stone verlegte in seiner Inszenierung, eine Übernahme vom Theater Basel, den Geschlechterkampf zwischen der Tänzerin Marietta und dem nerdigen, wahrscheinlich aber hochgradig neurotischen Paul von 1890 in die mit Moden der 1960er Jahre kokettierende Gegenwart. Marlis Petersen und Jonas Kaufmann zerfleischen sich im Bungalow und in ihren Partien mit Fahrrad, Einkaufswagen, Mikrofon und auf einem zerknitterten Bett. Sie kämpfen in einem Meer von Hassliebe, Zärtlichkeit, Aggression, Eifersucht und Übergriffen. Das ist mehr Thriller als Oper und reicht bis zur psychischen und häuslichen Gewalt. Denn Stones Spezialität ist die Transformation von Opernschauplätzen in vertraute gegenwärtige Räume. Die cineastische Detailverliebtheit von Ralph Myers’ Bühnenbild funktioniert – bis zu den Kronkorken der Bierflaschen, den Frühstücksutensilien im Küchenschrank und Petersens verrutschenden Kleidern. Der misogyne Seelenkrimi aus der Novelle von Georges Rodenbach gerät zum Beziehungs- und Problemdrama ohne krude Metaphysik.
Dazu gibt es auch in den Nebenpartien extrovertierte und attraktive Akteure: Stone erzählt mit Gruppenfummeleien, multiplen Personen und Kinderfiguren von erotischer Selbstverwirklichung, generellem Misstrauen und Angst vor Familienleben. Das wird in der Videoproduktion weitaus deutlicher als in den Vorstellungen. Unter anderem als überragende Interpretin der Marietta/Marie wurde Marlis Petersen für den Theaterpreis DER FAUST nominiert und vor kurzem zur Bayerischen Kammersängerin ernannt. Jonas Kaufmann stürzt sich ohne Rücksicht auf Verluste mit hervorragender Energie in die halsbrecherische Partie des Paul. Dennoch: Die Szene der kahlköpfigen Marie im Endstadium ihrer tödlichen Krankheit macht nicht nur Eindruck durch Petersens Wandlungsfähigkeit, sondern auch durch irisierende Klangspiele und orchestrale Nervenkitzel.
Roland Dippel