Olivia Vieweg
Die Stadt der Schattenschläfer und die Melodie der Albträume
Glück sieht ganz anders aus! Das mag sich die 13-jährige pubertierende Elly denken, als sie plant, von zu Hause abzuhauen. Elly ist bekennender Heavy-Metal-Fan. In ihrem „idyllischen“ Heimatort Quedlinburg jedoch wird ausschließlich Blasmusik gespielt, fast wie eine Religion zelebriert. Andere Musikformen gibt es in Quedlinburg nicht – auch wenn das fast beschönigende „Musik für den Frieden“ im Stadtwappen anderes vermuten ließe. Der Ausbruchsversuch misslingt auf allen Ebenen, ihr Vater sammelt sie wieder ein und Elly bleibt gefangen in einem ihr musikalisch letztlich fremden Umfeld, auch wenn sie eine durchaus begabte Trompeterin ist.
Für kulturpolitisch interessierte Menschen ist das Buch ein Traum – quasi musikalische Science-Fiction: Jedes Kind in der Stadt spielt ein Blasinstrument. Der Musikunterricht ist das wichtigste Unterrichtsfach in der Schule – JeKi im gelungenen Endstadium.
Es gibt aber auch eine dunkle Seite von Quedlinburg, tief unter der Erde. Sonderbare Gestalten vegetieren dort vor sich hin. Dort herrscht eine depressive und morbide Atmosphäre. Der seit 20 Jahren kaputte Fahrstuhl, der auch damals schon nur abwärts in den Versorgungskeller fuhr, scheint einer der Eingänge zu dieser Gegenwelt zu sein. Ein anderer Eingang ist wohl der Brunnen am Waldrand. Dort hat das kleine Mädchen „Schatten“ ihre Stimme verloren, als ein eigenartiges Wesen, der Tonholer, ihr Gesicht berührt hat. Fortan sprach der Tonholer mit ihrer Stimme weiter.
Welche Rolle spielt der neue und anderen Musikformen gegenüber aufgeschlossene Musiklehrer Hellborn? Er ist so anders als alle anderen Bewohner von Quedlinburg. Plötzlich verschwindet Hellborn von der Bildfläche. Kurz vor seinem Verschwinden hatte er Elly noch ein Notenheft mit dem Schriftzug „Blasmusik für Fortgeschrittene“ übergeben. Ein leeres Notenheft – doch plötzlich erscheinen darin wie von Geisterhand Noten. In welcher Verbindung steht Hellborn zu den seltsamen Wesen im Untergrund?
Oberirdisch bahnt sich ein gewaltiges Musikfestival (natürlich: Blasmusik) an. Alle Schüler:innen nehmen daran teil – letztlich auch Elly, die das Geheimnis um die schwarze und gläserne Trompete gelüftet hat und an den Ereignissen gereift ist. Na ja: Die anderen trugen „strahlende Kostüme und hatten die Haare frisch frisiert“. Elly und ihre vier neugewonnen Freunde, die „Blasmusik des Todes“, kamen in „pechschwarzen Dirndln, tiefschwarzen Lederhosen und finsteren Hemden. Ihre Haare waren zottelig und als Wappen trugen sie einen gemalten Totenschädel, aus dem eine Musiknote aufstieg.“
Ein liebe- und verständnisvolles Buch für unverstandene Jugendliche auf dem Weg aus der Pubertät, aber auch für Erwachsene. Das Lesealter „11 Jahre“ sollte nicht unterschritten werden!
Ralf-Thomas Lindner