Rolf Riehm

Die schrecklich-gewaltigen Kinder/O Daddy

Piia Komsi (Koloratursopran), Ensemble Modern, Ltg. Hermann Bäumer, SWF-Sinfonieorchester Baden-Baden, Ltg. Kazimierz Kord

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo
erschienen in: das Orchester 03/2019 , 70

Wie präsent ist uns Heutigen die griechische Mythologie? Wohl wenig, und falls jemand sich an diesen Schatz der Menschheit erinnert, dann allenfalls bruchstückhaft. Genau dies spiegelt Rolf Riehms Einleitung „Großseufzer“ zum 55-minütigen Werk Die schrecklich-gewaltigen Kinder: Er montiert Klangfetzen und aufwühlend schrille Passagen, die ein Koloratursopran mit virtuosem, staunendem, leidendem, seufzendem, stöhnendem, mitleidigem „A“ durchbricht. Erst nach sechseinhalb Minuten wandelt sich das „A“ zum Text. „Alle nämlich“, zitiert nun die Stimme, „die von Erde und Himmel stammten, waren schrecklich-gewalttätige Kinder.“ Nun steht die Stimme im Vordergrund; das Ensemble kommentiert nur noch gelegentlich mit Percussion. Eines dieser Kinder, Kronos, entmannt und entmachtet seinen Vater Uranos und frisst, um die eigene Herrschaft zu sichern, alle seine Kinder mit Ausnahme des vor ihm verborgenen Zeus. Hier endet Riehms Textauszug. Der humanistisch Gebildete weiß: Zeus wird Kronos stürzen.
Riehms Komposition schildert in vier Liedern für unbegleiteten Solo-Sopran, wie die Erdgöttin Gäa eine Sichel aus grauem Stahl für den Tyrannenmord schafft. Einzig bei der Passage zum Beschluss des Mords unterlegt der Komponist et­wa zwei Minuten lang filmmusikalische Klänge: ein dramaturgischer Kniff, um die Aussage zu betonen. Dabei grenzt es (wenn wir schon bei den Göttern sind) ans Übermenschliche, wie Piia Komsi die immensen Tonsprünge und nicht minder aberwitzigen Glissandi bewältigt, wie sie die Färbung ihrer Stimme verändert und den Text artikuliert, wie sie gestaltet und doch hinter dem Inhalt zurücktritt, wie sie im folgenden Solo, der „Rede des Kronos“, Stimmlage und Sprachgestus an die Männerrolle anpasst und in „Notturno“, in dem sie, vom Ensemble zurückhaltend kommentiert, mit erzählerischem Gestus Kronos’ Attentat auf Uranus schildert.
Das von Hermann Bäumer geleitete Ensemble Modern gestaltet die Instrumentalpassagen präzis und bei aller Brutalität der Musik differenziert. Es zeigt Härte, wenn das Hämmern zweier Klaviere, im Dunkeln brausende Bläser, schrille Klänge von Holzbläsern und Geigen sowie scharfe Percussion den Göttervater und Tyrannen charakterisieren. Im Porträt Gäas hingegen arbeitet es das Schwanken zwischen aufwühlenden und flächig-kontemplativen und düster-resignativen Momenten heraus. Eine weitere wiede­rum großartig interpretierte Chronistenpassage mit Piia Komsi zur Geburt Zeus’ kommentieren an wesentlichen Erzählpunkten Ensembleklänge; diese münden in ein knappes „Nachspiel“, das einen dramatischen Ausblick auf den nächsten Vatermord durch Zeus andeutet.
Diesen Rundfunkmitschnitt aus dem Jahr 2003 ergänzt das fünfzehnminütige O Daddy für Orchester und Zuspielungen, eine Funkproduktion aus dem Jahr 1984 mit dem SWF-Sinfonieorchester und dem Dirigenten Kazimierz Kord. Hier thematisieren collagierte Sprachaufnahmen, elektronische Sounds und Orchestercluster den Mord eines Jungen an seinem Vater.
Werner Stiefele

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