Heidenreich, Elke
Die schöne Stille. Venedig, Stadt der Musik
Mit Fotografien von Tom Krausz
Bevor man stirbt, muss man Neapel sehen. Und Venedig hören, wenn man Elke Heidenreich glaubt. Venedig, die schwebend untergehende Stadt, selbst schon von tragischem Charakter, ist nicht nur eine aufs Wasser gelassene Wolke sieben für Verliebte, nein, la Serenissima ist auch und vor allem Ort des Hörens, des Müßiggangs, des Alleinseins. Venedig, so Heidenreich, muss man für sich selbst erleben, dazu noch am besten im Winter. Erst dann sei die tiefe Melancholie fassbar, sei die schöne Stille dieser Stadt ohne Autos hörbar.
Das ist natürlich ein ganz anderes und viel schöneres Bild von Venedig, als es aus den Reiseführern glänzt. Entsprechend sind die zahlreichen Bilder von Tom Krausz, die Elke Heidenreichs mal schlendernden, mal gondelnden Spaziergang begleiten, Venedig im Nebel aufgenommen, manche sogar unscharf. Ein sehr persönlicher Blick auf diese Stadt ist das, der poetisch umrahmt ist von zahllosen Stimmen berühmter Schriftsteller und Komponisten, die von Venedig verzaubert ihre Eindrücke in Reisetagebüchern oder Belletristik festhielten. Und somit nimmt Heidenreich die Rolle der belesenen Moderatorin ein und ergänzt ihren eigenen Streifzug durch die Stadt mit dem vieler anderer Berauschter. Venedig aus so unterschiedlichen Perspektiven zu sehen und so gut informiert dargestellt zu bekommen, ist die größte Qualität dieses Buchs, das mit Sicherheit der interessanteste Reiseführer für diese Stadt ist.
Natürlich wurde Venedig nicht nur in Textform besungen, sondern zum Beispiel auch in Liszts Lugubre gondola oder Vivaldis Vier Jahreszeiten. Viele große Künstler und Werke hat diese Stadt hervorgebracht. Monteverdi, Vivaldi, Wagner, Strawinsky und Liszt waren hier, der zweite Akt des Tristan entstand im prachtvollen Palazzo Vendramin. Wenn Heidenreich Venedig aber die für die westliche Musikgeschichte wohl wichtigste Stadt überhaupt nennt und das mit Zitaten berühmter Männer absichert, melden sich die Gewissen der beiden Wiener Schulen, der Pariser Komponisten von Lully bis Debussy und noch viele andere zu Wort. Selbst im italienweiten Vergleich ist diese Auszeichnung Venedigs nicht unbedingt richtig, denkt man an die neapolitanische Schule.
Heute, das räumt Heidenreich ein, ist die Zeit der O Venezia-schmachtenden Gondolieri ohnehin vorbei. Der Tod in Venedig wird mehr und mehr zum Tod von Venedig, und wer sich heute durch Touristenmengen quetscht, um das Grab Diaghilevs zu suchen oder ins La Fenice zu gehen, dem kommt die schöne Stille nicht in den Sinn. Früher muss Venedig einmal so überwältigend schön und musikdurchdrungen gewesen sein, dass Mark Twain einen dieser singenden Gondolieri mit den Worten anfuhr: Ich bin nicht gewillt, meine Gefühle von einem solchen Gejaule zerfleischen zu lassen. Wenn das nicht aufhört, muss einer von uns ins Wasser. Heute, im Verfall, hat Venedig, wenn überhaupt, dann eine neue Ästhetik. Alte Prachtwerke heraufzubeschwören und sich Neuem zu verschließen, tut dem Feuilleton natürlich nicht gut. Und zum Zuhören sind andere Städte heute wahrscheinlich ohnehin spannender als das Touristen- und Taubengeschnatter auf der Lagune.
Vera Salm