Bernd Feuchtner

Die Oper des 20. Jahrhunderts in 100 Meisterwerken

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Wolke
erschienen in: das Orchester 04/2021 , Seite 61

Bernd Feuchtner agiert mit Herz, Hirn und Bauch sowie fundierten Erfahrungen als Programmleiter, Dramaturg und Musikjournalist. Diese Kombination macht das Buch zu einer Pionierleistung und einem Standardwerk wie Oscar Bies Die Oper oder Volker Klotz’ Operette, weil die Werkeinführungen auch das epochale Klima der Entstehungsbedingungen einbeziehen. Tatsächlich stammen die ausgewählten Stücke aus allen Jahrzehnten und das Opernschaffen außereuropäischer Länder wird umfassend berücksichtigt. Feuchtner geht bei seiner Auswahl subjektiv vor und bekennt sich dazu. Das hindert ihn allerdings nicht daran, die Vielfalt des internationalen Opernschaffens bemerkenswert facettenreich abzubilden.
In vier Exkursen gibt er suggestive Anreize zur Beschäftigung mit dem, was in diesem Band zwangsläufig fehlen muss. Einer dieser Exkurse („Oper in Lateinamerika“) führt in ein hierzulande stark unterschätztes Musiktheater-Universum. Dafür verzichtet der Buchautor aus persönlicher Abneigung auf Titel wie Dead Man Walking, obwohl er die politische Oper Amerikas als eine bedeutende Linie der Gattung im 20. Jahrhundert würdigt – aber auch Stockhausens Licht-Zyklus. Regeln sind (manchmal) dazu da, um gebrochen zu werden: So findet man Weills Silbersee, eigentlich ein Schauspiel mit viel Musik, anstelle von Mahagonny, obwohl Feuchtner sich auf Opern ohne deren Hybride beschränken wollte.
Von einem Komponisten bzw. einer Komponistin (Nr. 1 ist Ethel Smyths The Wreckers, 1906) gibt es jeweils maximal ein Opus. Feuchtner agiert pluralistisch: Er rehabilitiert Hans Pfitzner als Mitgestalter des Jugendstils (Die Rose vom Liebesgarten, 1901) und er setzt sich für eine Vielzahl von Stilen ein. Das „Phänomen der Entschleunigung“ von Pelléas et Mélisande (1902) bis Kaija Saariahos L’amour de loin (2000) wird so plastisch wie der Strang von Werken mit religiös-spirituellen Sujets.
Im Vorwort liefert Feuchtner eine Tabelle mit den im deutschen Sprachraum meistgespielten Kom-ponisten des 20. Jahrhunderts in der Spielzeit 1999/2000. Die genannten Namen zwischen Richard Strauss (Platz 1) und Francis Poulenc (Platz 18) spiegeln nur unzureichend die von Feuchtner nach Abschluss seiner Arbeit bestätigte Feststellung von Gérard Mortier, im 20. habe es mehr Meisterwerke gegeben als im 19. Jahrhundert. Betreffend Vielfalt der Formen und ästhetischen Wege zeigt auch Feuchtners Zusammenstellung die Risse des 20. Jahrhunderts durch eine anti-humane und von technisch-medialer Beschleunigung angetriebene Geschichte.
In den unterschiedlich langen Einzeldarstellungen durchdringen sich Handlungsbeschreibung, musikalische Darstellung und kulturgeschichtliche Verortung. Das ist auch nötig, denn spätestens nach 1945 gibt es kaum noch gültige Werk-Paradigmen wie das Musikdrama der Wagner-Nachfolge oder die italienische Opera seria. Insofern demonstriert Feuchtner die gewaltige Diversifizierung, die sich im Opernschaffen des 20. Jahrhunderts vollzogen hat. Spannend, unterhaltsam und immer höchst informativ.
Roland Dippel