Michael Kraus
Die musikalische Moderne an den Staatsopern von Berlin und Wien 1945-1989
Paradigmen nationaler Kulturidentitäten im Kalten Krieg
Mit der erfolglosen Uraufführung von Postmeister Wyrin, einer Oper von Florizel von Reuter, eröffnete im Jahr 1946 Ernst Legal, der erste Nachkriegsintendant der Berliner Staatsoper, sein Haus: Die Staatsoper muss in den Stand gesetzt werden, Werke herauszubringen, in denen sich werdende Kräfte anmelden, die für die Zukunft wichtig werden können. Dazu sollten Werke wie Paul Dessaus Verurteilung des Lukullus, Richard Mohrhaupts Bremer Stadtmusikanten oder die modernen Ballettproduktionen von Tatjana Gsovsky gehören.
In Wien eröffnete man schon 1945 mit Mozarts Hochzeit des Figaro. Der erste Nachkriegsdirektor der Wiener Staatsoper, Franz Salmhofer, setzte auf vorhandenes Repertoire, bevor er Werke zeitgenössischer Komponisten aufs Programm setzte: Arthur Honeggers Johanna auf dem Scheiterhaufen, Rolf Liebermanns Penelope und Strawinskys The Rakes Progress.
Die Berliner wie die Wiener Staatsoper waren als Repräsentantinnen zweier sich neu bildender Staaten Austragungsorte eines Kulturkampfs und Aufmarschgebiet für ideologische Scharmützel, die in dem Buch von Michael Kraus, der durch aufwendige Recherchen bisher unbekanntes Archivmaterial erschloss, erstmals detailliert nachvollziehbar sind. Der behandelte Zeitraum markiert eine Periode, die stark vom Antagonismus zwischen dem kapitalistischen System (West) und dem sozialistischen System (Ost) geprägt war, trotz aller wahrzunehmenden kunstpolitischen Ausweichmanöver in Ost wie West während der wechselnden politischen Großwetterlagen und Intendanzen. In Berlin waren das Heinrich Allmeroth, Max Burghardt, Hans Pischner und Günter Rimkus, in Wien Hermann Juch, Karl Böhm, Herbert von Karajan, Egon Hilbert, Egon Seefehlner, Lorin Maazel und Helmut Drese, um nur die wichtigsten zu nennen.
Während man in Wien bei der Moderne die Verbindung mit der Vergangenheit gesucht habe, habe man sich an der Berliner Lindenoper bemüht, den Fortschritt und den Weltfrieden zu fördern, indem man neue sozialistische Werke uraufführte. Der Erfolg dieser Bemühungen war allerdings beschei-den, so Kraus. In Wien, wo man vor allem den Mythos von der unpolitischen Kunst pflegte, habe seit den 1970er Jahren mehr und mehr Stillstand, wenn auch auf hohem Niveau geherrscht. In der Berliner Staatsoper kamen zwischen1945 und 1989 immerhin sechzehn Werke zur Uraufführung, in Wien ganze drei. Aber nicht ein einziges von diesen Werken hat überlebt, so liest man. Schließlich wurden kulturpolitische Visionen zunehmend durch ökonomische Erwägungen ersetzt, in West wie in Ost, resümiert der Autor.
Das sehr sachlich geschriebene, mit vielen Anmerkungen und einem hervorragenden Personen- und Werkregister versehene Buch ist als Nachschlagewerk außerordentlich wertvoll und nützlich.
Dieter David Scholz