Wagner, Richard
Die Meistersinger von Nürnberg
Klavierauszug nach der Gesamtausgabe, hg. von Egon Voss
Aufführungspraxis, Quellenstudium, Urtext mit Begriffen wie diesen assoziieren wir gewöhnlich Alte Musik, will sagen: Musik aus einer Zeit, die mit der unsrigen keine lückenlose Aufführungstradition mehr verbindet. Musik, zu deren Ursprüngen wir neue Wege erschließen müssen, um sie in ihrem eigentlichen Idiom verstehen zu lernen. Was hätten Überlegungen wie diese mit Richard Wagner zu tun? Jenem Schöpfer schwergepanzerter Kolossaldramen, der uns allein durch das alljährliche Bayreuth-Defilée zutiefst vertraut ist. Er ist einer von uns, seine Musik spricht unmittelbar zu uns, Übersetzungshilfen sind nicht erforderlich
Die vorliegende Publikation beweist die Unrichtigkeit dieser Annahme: Egon Voss, Editionsleiter der neuen Wagner-Gesamtausgabe und einer der profiliertesten Wagner-Kenner unserer Zeit, weist im Vorwort des neuen Meistersinger-Klavierauszugs darauf hin, dass die Etablierung jener spezifischen Meistersinger-Tradition als der Fest- und Nationaloper erstens konträr zu Wagners Absichten steht und zweitens auch Problemen des Notentexts anzulasten ist. Wie bereits in der Partitur der neuen Gesamtausgabe (erschienen beim Verlag Schott), so sind auch im daran anknüpfenden Klavierauszug diverse Unkorrektheiten, die seit dem Erscheinen des Erstdrucks 1868 in der Welt waren, nunmehr getilgt. Es handelt sich zuvorderst um dynamische und artikulatorische Vorschriften Wagners, die der Erstdruck entweder verfälschend wiedergibt oder glatt unterschlägt. Hier aber liegt der Ursprung jener kritischen Stimmen, die um mit Nietzsche zu reden das Werk als “überladene, schwere Kunst” bezeichnet und Wagners Musik “derb und grob” genannt haben.
Wagner nennt sein Werk noch 1861 explizit eine “große komische Oper”, ihm schwebte zweifellos ein leichterer, hellerer Klang vor, als wir ihn heute meist vernehmen. Er setzte genaue Crescendo- und Diminuendo-Zeichen, häufig findet sich die Bezeichnung più piano (aus der der Erstdruck ein schlichtes piano machte). Besonders interessant ist Wagners differenzierte Verwendung der Punkte und Keile: Im Erstdruck wurden diese beiden Zeichen ohne Unterschied zu Punkten vereinheitlicht. Tatsächlich scheint Wagner den Keil durchaus konsequent im Mozartschen Sinn eingesetzt zu haben: als Zeichen für sehr kurze Artikulation und zugleich als Indikator zur Aufhebung der gewöhnlichen Phrasierungshierarchie. Keile über einer Achtelkette bedeuten: deutlichste Trennung sowie Gleichheit der Betonungen!
Als wissenschaftliche Leistung, vor allem aber als Stimulans zur Überwindung interpretatorischen “Schlendrians” kann dieser Klavierauszug der pianistisch auf der grandiosen, technisch sehr anspruchsvollen Version des Wagner-Vertrauten Karl Klindworth basiert nur nachdrücklich gelobt und zur Verwendung bei allen zukünftigen Einstudierungen empfohlen werden!
Gerhard Anders