Alfred Brendel/Peter Gülke

Die Kunst des Interpretierens

Gespräche über Schubert und Beethoven

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter/Metzler
erschienen in: das Orchester 07-08/2021 , Seite 63

Das Buch versammelt drei Gespräche, die 2013, 2018 und 2019 bei den Schubertiaden in Hohenems improvisierend vor Publikum geführt wurden. An die Stelle des geplanten vierten Gesprächs, das wegen der Corona-Pandemie ausfallen musste, trat ein Briefwechsel, in dem Brendel und Gülke sich mit Beethovens Hammerklavier-Sonate, Fragen der Liedinterpretation, mit musikalischem Humor sowie mit Tempi und Intervallen, insbesondere in Werken Schuberts, beschäftigen.

Eingeleitet wird der Band nach dem Vorwort der beiden Autoren mit einem Vortrag von Brendel über Schuberts letzte Sonaten. An ihn knüpft das folgende erste Gespräch an. Die mündliche Diktion der Dialoge wurde im Buch weitgehend beibehalten. Dadurch kommen die den beiden Partnern eigenen persönlichen Arten des Sprechens über Musik und die wechselseitigen Anregungen, die sie einander bieten, gut zur Geltung.

Die Gesprächstexte wurden nachträglich mit zwanzig Zwischenüberschriften fasslich gegliedert, mit Titeln wie beispielsweise Schubert und die Oper – Der Liedkomponist – Goethe und das Lied – Absicht und Zufall – Das Orchester im Hintergrund – Literatur, laut gelesen – Der Wanderer, das Wandern – Opposition zu Beethoven – Der kühne Schubert – „Ernste“ und „leichte“ Musik – Die Frage der Tempomodifikationen – Grundsätzliches zur Interpretation – Bewusstheit und Spontaneität – Kein Meisterwerk ist wie ein anderes – Tempo und Metronom.

Brendel und Gülke behandeln einander mit großem Respekt vor den beiderseitigen musikalischen Erfahrungen und Kenntnissen. Im intensiven gemeinsamen Nachdenken entwickelt sich ein schöner Ton, in dem musikalische Phänomene lebendig werden. An ausgewählten Werken und einzelnen Stellen demonstrieren die Gesprächspartner charakteristische Besonderheiten und Differenzen des Schaffens von Schubert und Beethoven.

Zudem knüpfen sie an ihre musikalischen Beobachtungen viele erhellende Gedanken zu biografischen, sozial-, kultur-, literatur- und kunstgeschichtlichen sowie politischen und philosophischen Aspekten. Der Titel Die Kunst des Interpretierens wird in doppelter Weise eingelöst: Sowohl das sprachlich vermittelte als auch das klangliche Interpretieren gehören zu ihr; eine umfassende „Kunst“ aber wird das intendierte Interpretieren durch die Wechselwirkungen beider Modi und die unabschließbaren Verstehensprozesse, die aus ihnen erwachsen.

Besonders Peter Gülke gelingen immer wieder bestechend formulierte Einsichten. Mit gelegentlich auflockernden Saloppheiten gewürzt, schreibt und spricht er sehr dicht. Viele seiner Ausführungen wuchern zu komplexen Gedankengebilden und treiben brillante diskursive wie metaphorische Blüten. Alfred Brendel, der sich meist knapper hält, bringt immer wieder bemerkenswerte Fakten und Überlegungen ein, an denen sich neue Überlegungen entzünden. So bietet der Band eine anregende, fesselnde und aufschlussreiche Lektüre.

Ulrich Mahlert