Bach, Johann Sebastian
Die Kunst der Fuge
für Violine, Viola, Violoncello, Fagott und Violone (Kontrabass) BWV 1080, partiturgetreue Originalfassung, hg. von Hans-Eberhard Dentler, Partitur
Eine dezidierte Aufforderung des Publizisten Johann Mattheson aus dem Jahr 1739 an den berühmten Herrn Bach mag für diesen ein Anstoß gewesen sein, den Werkzyklus zu beginnen, der posthum den Titel Die Kunst der Fuge erhielt. Schon etwa 1742 lag eine abgeschlossene Frühfassung vor, bestehend aus zwölf Fugen und zwei Kanons. Zu einem späteren Zeitpunkt ergänzte Bach je zwei weitere Fugen und Kanons, die ersten drei Fugen erhielten erweiterte Schlüsse, bei Nr. 6 (Nr. 10 der Druckfassung) wurden am Beginn elf Takte hinzugefügt. Motivische Bezüge zwischen diesen Erweiterungen und den Folgesätzen veranlassten Bach, die Reihenfolge der Fugen Nr. 2 und 3 zu vertauschen. Ein zusätzlicher Kanon (Nr. 14a), der nur das zweitaktige Thema mit Nr. 14 gemeinsam hat, fehlt in der Druckfassung wie auch in heutigen praktischen Ausgaben. Eine autorisierte Reihenfolge der Sätze ist ebenso wenig überliefert wie Angaben zur Instrumentation.
Einer Darstellung auf der historischen Orgel steht der begrenzte Tonumfang der verkürzten Oktave entgegen, ein 16′-Register für den Bass ist nirgends erforderlich. Der Schluss von Nr. 6 sowie einige Stellen der Spiegelfuge Nr. 13 überfordern die manuelle Spannweite auf dem Cembalo. Die gelegentliche Auffächerung in fünf bis sieben Stimmen sowie der Tonumfang von Altstimme (bis e) und Tenorstimme (bis A) fordern von konventionellen Ensemblebesetzungen bearbeitende Eingriffe.
Wie schon in seiner 2004 veröffentlichten Studie bietet Hans-Eberhard Dentler in der vorliegenden Ausgabe nicht nur eine Lösung der Besetzungsprobleme an, sondern eine umfassende Deutung des Werks als Abbild der pythagoreischen Philosophie. Er ist nicht der erste, der Verbindungen Bachs aufzeigte zu Johann Matthias Gesner, Thomasschulrektor und bedeutender Philologe, und Lorenz Christoph Mizler, hochgeschätzter Schüler von beiden und Initiator der Musicalischen Societät, der Bach später selbst beitrat.
In der Kunst der Fuge sieht Dentler eine Reihe pythagoreischer Prinzipien verwirklicht: das Rätselprinzip (die Instrumentation ist für ihn das Rätsel), das Dualismus- und das Spiegelprinzip und vor allem die Tetraktys (das ordnungsstiftende Prinzip der Zahl 4). Nun sind diese Prinzipien derart häufig in der Kunst und der Natur anzutreffen, dass Dentlers These ebenso zutreffend wie nichtssagend ist. Die Frage, ob eine Philosophie überhaupt in Musik dargestellt und verstanden werden kann, soll hier nicht erörtert werden.
Seine Streicherbesetzung begründet Dentler mit der Bevorzugung von Saiteninstrumenten gegenüber den verachteten Blasinstrumenten durch die Pythagoreer. Dass sie Lyra und Kithara, also Zupfinstrumente, meinten, scheint ihn hierbei nicht zu stören. Das tiefste Blasinstrument war jedoch akzeptiert, deshalb wird dem Bass das Fagott zugeordnet, in der unteren Oktav verdoppelt durch den Kontrabass.
Als Kronzeuge gegen das Klavierparadigma und für die Streicherbesetzung wird Mozart mit seiner Übertragung des Kontrapunktus 8 für Streichtrio KV 405a benannt. Aber waren nicht alle Fugen in KV 404a und 405 Originalsätze für Klavier oder Orgel? Das singuläre H der Mittelstimme in Takt 173 hatte Mozart durch eine geschickte Umleitung in die obere Oktav gelöst; Dentler lässt für diesen Satz die c-Saite der Viola auf H stimmen.
Der Tenorstimme wird das Cello zugewiesen, das sich in zum Teil extrem hohen Lagen abmühen muss, während der Tonraum von C bis Gis nicht zum Einsatz kommt. Die Oberstimme des zweistimmigen Kanons Nr. 15 führt das Cello in einen Kampf, der nicht zu gewinnen ist, bevor es am Schluss in die Klausel A-D springt.Da der Kontrabass die Unterstimme eine Oktav tiefer transponiert, verschiebt sich hier die Diskantklausel Cis-D in den Bass. Die ersten neun Takte der Spiegelfuge Nr. 12 lässt Dentler vom Kontrabass allein spielen, also auch hier eine Oktav tiefer als von Bach vorgesehen. Der Grund hierfür mag in den engen Intervallen und Überkreuzungen mit dem Comes in der Tenorstimme liegen. Die gleiche Konstellation liegt aber in der Inversus-Fuge zwischen den beiden Oberstimmen vor kein Grund also, Bachs Absichten zu korrigieren.
Im Kanon per Augmentationem in Contrario Motu (Nr. 14; Nr. 18/2 der Dentler-Ausgabe) durchmisst das Fagott den gesamten Tonraum vom Kontra-H bis zum c”. Die Aufspaltung der Diskantstimme am Ende der Fugen Nr. 5, 6 und 7 löst Dentler durch Doppelgriffe der Violine, die stellenweise jedoch kaum klanglich befriedigend zu bewältigen sind. Die dreistimmigen Schlussakkorde des Cellos in Nr. 6 dürften ein kultiviertes Zusammenspiel des Ensembles erheblich belasten. Ein fünfsaitiges Cello könnte dieses und andere Probleme abmildern.
Eine vierstimmige Variante der Spiegelfuge Nr. 13 wurde in den Erstdruck aufgenommen mit der Anweisung a 2 Clav.; die Verteilung der Stimmen auf die Notensysteme legt dies nahe. Dentler setzt hier die vier Streichinstrumente ein, wobei der Kontrabass seine Stimme oktaviert, was die Stimmführung vielfach umschichtet und dadurch entstellt.
Da Bach nur etwa die Hälfte der Druckfassung überwachen konnte, ist die Reihenfolge der ersten zehn Sätze als authentisch anzusehen, also auch der Tausch der Sätze 2 und 3 der Manuskriptfassung. Dentler macht diesen Tausch rückgängig, wodurch die nachkomponierten strukturellen Bezüge auseinandergerissen werden. Dass Dentler den erwähnten Kanon Nr. 14a in der Fachliteratur gelegentlich als verworfene Skizze bezeichnet wieder nutzbar macht, ist zu begrüßen, in der Besetzung als Duo für Violine und Cello jedoch problematisch.
Die Kunst der Fuge ist vielmals gedeutet und bearbeitet worden, die Lösung aller Rätsel ist bisher nicht gelungen. So interessant Dentlers Ansatz auch ist, in Bachs weltanschaulichem Umfeld nach Hinweisen zu suchen, bleiben seine Ergebnisse doch Hypothesen, und seine Instrumentalfassung ist denkbar weit von der behaupteten Partiturtreue entfernt.
Jürgen Hinz


