Georg Christoph Biller
Die Jungs vom hohen C
Erinnerungen an die Thomaner
Als die Menschen in Dresden zu den Zügen mit den Botschaftsflüchtlingen drängten, sang er in Hellerau die Zeile Ein Land geht langsam in die Knie, hörbar von Polizeisirenen begleitet. Das war 1989. Drei Jahre später war er der 16. Thomaskantor nach Johann Sebastian Bach. In dieser Spannung zwischen eigener Chorerfahrung in der DDR und Leitung des traditionsreichen Leipziger Chors unter Westbedingungen erinnert sich Georg Christoph Biller an seine lange Zeit mit den Thomassern, wie sie sich selbst nennen.
Es beginnt mit seinem krankheitsbedingten Rücktritt im Januar 2015, dann geht es zurück in seinen Geburtsort Nebra, wo wirklich nicht viel los war, heute ist es noch schlimmer. Aber es gab die Thomaner im Radio, Bach statt Arbeit im Pfarrgarten. Dem Rückblick, den der Journalist Thomas Bickelhaupt aufgezeichnet hat, ist das erinnernde, erzählende Wort wohltuend anzumerken. Und auch wenn Biller selbst sagt, Man wacht ja nicht eines Morgens auf und verkündet: Ich werde Thomaskantor!, so scheint dieser Weg doch unausweichlich und immer im Hintergrund zu schweben.
Von Erhard Mauersberger noch im Jahr des Probesingens für den Thomanerchor engagiert, erlebt Biller die lebenslange Prägung, trotz fehlender Privatsphäre und ohne Luxus. Schon als 16-Jähriger steht er mit Weisungsbefugnis vor dem ganzen Chor. Erfreulich uneitel (auch, was die Erwähnung eigener Kompositionen angeht) schaut Biller zurück, sowohl kritisch als auch anekdotisch. Dass er als Thomaskantor seinen Jungs beibrachte, wie man ordentliche Schulstreiche anstellt, gehört ebenso dazu wie der Thomaner Martin Petzold, der sein Russisch-Examen singend absolvierte. Aber er erinnert auch daran, was aus einigen seiner Mitsänger geworden ist, zeichnet genaue Porträts etwa des Musiklehrers Rolf Reuter oder des Gesangspädagogen Bernd-Siegfried Weber.
Aber Biller findet auch deutliche Worte für die sich wiederholenden Versuche der DDR, Einfluss auf den Chor zu nehmen, ihn weltlicher zu machen, etwa durch Musikprogramme für verdienstvolle Genossen oder Arbeiterlieder. Dies, so Biller, geschah vor allem unter Hans-Joachim Rotzsch, politisch zuverlässig, wendig und schließlich Stasi-belastet. Auch dafür findet er klare Worte und wird, nach einer hochnotpeinlichen Befragung durch den Kirchenvorstand,
dessen Nachfolger.
Nun stand er auf der anderen Seite des Podiums, spürte eine gewisse Distanz der Thomasser, zu denen er selbst mal gehörte. Es galt, das Spannungsfeld zwischen Einzelnem und der Gemeinschaft ebenso zu meistern wie den Alltag im Alumnat: der jährliche Neubeginn, mit jungen Sängern, die immer seltener aus kirchlichen Elternhäusern kommen, die Stubenstruktur zu modernisieren und trotzdem mit ihr den spezifischen Geist der Chorgemeinschaft weiterzugeben.
Ein Fazit: Das System Thomaner funktioniert nicht ohne Strenge. Nach nur 156 Seiten mit leider schwachen Fotos muss man Billers engagierte Erinnerungen schon zuklappen, das Buch hätte ruhig dicker sein können.
Ute Grundmann