Wolfgang-Andreas Schultz
Die Heilung des verlorenen Ichs
Kunst und Musik in Europa im 21. Jahrhundert
„Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?“, fragte der Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799). Nein, nicht allemal, aber es kommt vor.
Der Buchtitel verheißt ein großes Programm – mit deutlich esoterischem Charakter. Das Buch hat neun Kapitel, von denen sechs Texte schon früher veröffentlicht wurden und teilweise ein paar Jahre alt sind. Das ist in Ordnung. Nur hätten Autor und Lektor sie zu einem neuen Text verbinden sollen. Damit wären auch die vielen Wiederholungen des Immergleichen verschwunden. Stattdessen lässt man den Leser ohne Literaturliste und Register herumirren, wobei dieser unterwegs auf etliche Ausdrucks-, Sach- und Druckfehler sowie auf eine unseriöse Zitierweise stößt.
Das starke Sprachbild „Verlorenes Ich“ entstammt dem gleichnamigen Gedicht von Gottfried Benn, das Schultz nirgends vollständig abdrucken ließ. Er konnte offenkundig einige Verszeilen einfach nur gut gebrauchen. Damit ist auch das Muster des gesamten Buchs beschrieben: massenhaft Zitate, die – unbekümmert um deren jeweiligen Kontext – kompiliert wurden. Vom alten Ägypten bis in die Gegenwart und auf dem weiten Feld von Gott und Welt.
Der Autor – ehemals Professor für Musiktheorie und Komposition in Hamburg – beklagt die Entwicklung der abendländischen Geistesgeschichte vom beseelten Kosmos zum davon schließlich „abgetrennten Ich“. Ein Weg, der von Descartes’„cogito, ergo sum“ planiert worden ist. In der Kunst beklagt er die Musik der herrischen Schönberg-Schule. Kein in die Natur eingebettetes Ich mehr, sondern nur die streng reglementierte Arbeit am „Material“. Beides stehe – natürlich neben anderem – für das „reduzierte Selbstbild“ des Westens. Reduziert, denn vergessen und verdrängt worden sei „das Ganze“: die mystische Natur-und Gotteserfahrung.
Die Heilung des vom Ganzen „abgetrennten Ich“ sieht Schultz im Buddhismus. Welchen „Buddhismus“ er meint, erläutert er nicht, und bei den Begriffen rund um das „Ich“ plädiert er sogar für den Verzicht auf Klärung und bevorzugt die ungenaue Rede. Vornehmlich in philosophisch und wissenschaftsgeschichtlich luftleerem Raum. Manche – richtigen – Beobachtungen werden durch zerrissene Kontexte sogar falsch: starke Ähnlichkeiten zwischen mittelalterlicher Mystik – die Europa angeblich vergessen hat – und buddhistischen Vorstellungen sind eben nur Ähnlichkeiten und bedeuten für die praktizierte Kultur in Ost und West jeweils Eigenes.
Die groben Verallgemeinerungen – das Abendland, der Buddhismus, die Wissenschaft – führen zur Beliebigkeit statt zu Erkenntnissen. Für den, der Bescheid weiß, ist die Lektüre quälend. Wer etwas erfahren möchte, bekommt Schlagwörter hier und Geraune da. Es klingt hohl.
Kirsten Lindenau