Werner-Jensen, Arnold

Die großen deutschen Orchester

Geschichte, Dirigenten, Repertoire, Spielstätten und Besonderheiten

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Laaber, Laaber 2015
erschienen in: das Orchester 07-08/2016 , Seite 64

Jürgen Kestings Die großen Sänger oder Joachim Kaisers Die großen Pianisten sind nur die Spitze eines Eisbergs von Musikbüchern, die die „Großen“ einer Zunft beleuchten. Sie sind zugleich die Klassiker solcher Publikationen, während viele andere Veröffentlichungen dieser Art zwischen natürlichem Alterungsprozess und modernem Internet zerrieben worden sind. Arnold Werner-Jensens Beitrag Die großen deutschen Orchester läuft kaum Gefahr, in Kürze uninteressant zu werden. Eher verfestigt sich schnell die Ahnung, hier einen Klassiker der Zukunft in Händen zu halten. Denn dieses Buch ist mehr als ein wortreiches Zahlen- und Namenregister, es ist eine Bestandsaufnahme unserer Orchesterlandschaft mit sehr viel  Hintergrundinformationen. Es geht in diesem Großformat konkret um 19 von 131 professionellen Kulturorchestern.
Den umfangreichen, historisch fundierten Orchesterporträts aus Berlin, München, Hamburg, Leipzig, Dresden, Köln, Frankfurt, Bamberg und Stuttgart fügt Werner-Jensen drei einleitende Interviews zu allgemeinen Fragen mit dem Dirigenten Cornelius Meister, dem DOV-Geschäftsführer Gerald Mertens und dem Solotrompeter Joachim Pliguett bei; 39 weitere Gespräche mit Musikern, Dirigenten und Managern der vorgestellten Orchester folgen. Diese Einblicke in die Arbeit und Struktur der Orchester dokumentieren nicht nur die gegenwärtige Situation der einzelnen Klangkörper. Sie zeigen auch grundsätzliche Befindlichkeiten etwa zwischen Konzertvorbereitung und/oder Operndienst, spezifische Problemfälle bei Konzert- und Probebedingungen oder die sehr unterschiedlichen Kräftekonstellationen zwischen Intendanz, Manager, Chefdirigent, Orchestervorstand und Musikern auf. Es ergibt sich daraus die beeindruckend sensible Zeichnung einer höchst komplexen Struktur mit sehr individueller künstlerischer Zielsetzung. Zugleich aber legt Werner-Jensen das quasi soziologische Bild eines kreativen Organismus offen, dessen allgemeine Konstitution durchaus labil zu nennen ist.
Daher sind diese Gespräche der eigentliche Kern dieser Publikation, und Werner-Jensen ist ein erfahrener Fragesteller, der die Bedingungen bestens kennt, unter denen Musiker arbeiten, und der sich nicht scheut, die Dinge freundlich, aber direkt beim Namen zu nennen. Da geht es um das Repertoire genauso wie um Spielstätten, die Unterschiede zwischen Rundfunkorchestern oder solchen, die auch in der Oper spielen. Es geht aber auch um die Probleme, die vor allem Bläser mit zunehmendem Alter bekommen, und die verschiedenen Ansätze, wie man diese einvernehmlich lösen kann. Es geht auch um stilistische Fragen oder die Mitwirkung des Orchesters bei der Wahl des neuen Chefdirigenten.
Dieses Buch des in Heidelberg lebenden Autors ist also viel mehr als nur ein lexikalisches Nachschlagewerk, es ist eine umfassende Bestandsaufnahme der derzeitigen Orchesterlandschaft Deutschlands. Ein Requiem auf das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden/Freiburg findet sich auch darin.
Matthias Roth

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der „Rhein-Neckar-Zeitung“ Heidelberg.