Das Kyiv Symphony Orchestra im Freiburger Konzerthaus / © Elza Zherebchuk

Georg Rudiger

„Die Emotionalität kommt vom Orchester!“

Gastspiel in Freiburg: Das Kyiv Symphony Orchestra auf Deutschlandtournee

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 7-8/2022 , Seite 38

Kräftiger, lang anhaltender Applaus bran­det auf, noch bevor eine Note gespielt ist. Ein schüchternes Lächeln huscht über die Gesichter der jungen Musikerinnen und Musiker, die die Bühne im Freiburger Konzerthaus betreten. Blau-gelbe Fähnchen stecken in den Schnecken der Kontrabässe. Auch im Parkett ist die ukrainische Fahne zu sehen. Vor wenigen Wochen lebten die jungen Orchestermitglieder noch unter Bombenbeschuss in Kiew. Die meisten von ihnen flohen nach Polen – einige sind in der ukrainischen Hauptstadt geblieben. Eigentlich darf kein Mann zwischen 18 und 60 Jahren das von Russland angegriffene Land verlassen. Für die Mitglieder des Kyiv Symphony Orchestra wurde von der Regierung eine Ausnahme gemacht, weil sie als Kulturbotschafter eine wichtige Aufgabe erfüllen.
Die ukrainische Schreibweise der Hauptstadt im Orchesternamen ist für die Musiker:innen wichtig. Auch damit wird die eigene Kultur betont, die Russlands Präsident Wladimir Putin dem Land abspricht. Auf dem Programm stehen bis auf eine Ausnahme ausschließlich Werke ukrainischer Komponisten. Musik zur Stärkung der kulturellen Identität. Und als Trost in schwie­rigsten Zeiten.
Das Kyiv Symphony Orchestra gibt es bereits seit 40 Jahren. Das Staatsorchester spielt bei nationalen Feiertagen, hat aber auch schon große Opern­produktionen realisiert und setzt sich für Vermittlungsarbeit ein. Nach der Flucht konnte das Orchester zwei Wochen lang in Warschau für die kurzfristig geplante Deutschlandtournee proben, die an sieben Tagen in sieben große Städte führt. „Ich dachte, die erste Probe läuft chaotisch, weil die Musikerinnen und Musiker lange Zeit nicht üben konnten. Aber ich spürte von Beginn an eine besondere Intensität in ihrem Spiel“, sagt Dirigent Luigi Gaggero im persönlichen Gespräch nach dem Konzert. „Täglich erreichen uns furchtbare Nachrichten aus der Ukraine. Freunde und Verwandte sterben. Wir sprechen darüber im Orchester. Die Musik hilft sehr, um diese Emotionen auszudrücken und sich gegenseitig Halt zu geben.“ Diese existenzielle Bedeutung von Musik sei im Klassikbetrieb ein wenig verloren gegangen. Als Dirigent möchte er Raum zum Zuhören schaffen: „Die Emotionalität kommt vom Orchester!“ Der Italiener verwendet bewusst keinen Dirigierstab, sondern leitet sein Orchester mit den Händen. Er möchte nichts einfordern, sondern zum Musizieren einladen.
Der Konzertabend startet mit der Symphonie Nr. 1 in C-Dur vom in der Nähe von Sumy in der Nordukraine geborenen Maxym Berezovsky (1745-1777). Zärtliche, helle, charmante Musik im Mozart-Stil ist das – nicht unerwartet, waren doch Mozart und Berezovsky in Bologna beim gleichen Lehrer.
Gaggero dirigiert mit einem Lächeln. Der Solist des Abends, der in Odessa geborene Aleksey Semenenko, seit 2021 Violinprofessor in Essen, spielt beseelt Ernest Chaussons Poème und veredelt die ein wenig kitschgefährdete Melodie von Myroslaw Skoryk. Semenenko war selbst in der Ukraine, als der Krieg losging – und hatte große Schwierigkeiten, nach Deutschland ausreisen zu dürfen. Nun sorgt er sich in Deutschland um seine Eltern und seinen Bruder, die weiterhin in Odessa leben. In seiner berührenden Zugabe lässt er Johann Sebastian Bachs Adagio aus der ersten Solosonate in g-Moll in die Serenade des im März aus Kiew geflüchteten 84-jährigen ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov münden. Und zeigt im erzählerischen Ton und den Akkordbrechungen die enge Verbindung zwischen den Komponisten.
In Borys Ljatoschynskyis 1950 komponierter 3. Symphonie geht es um die Brutalität der Masse und den Wert des Individuums. „Der Friede wird den Krieg besiegen“, hatte der Komponist ursprünglich über den letzten Satz geschrieben, musste aber den Titel nach Stalins Kritik wieder streichen. Die gespielte Urfassung endet zwar auch bombastisch, aber mit dem musikalischen Material des Friedens. Kein Sieg der Gewalt also, die immer wieder in den Blechbläsern und dem martialischen Schlagzeug Dominanz gewinnt. Aber auch lyrische Soli in Englischhorn und Flöte finden Raum. Großer Applaus für das Kyiv Symphony Orchestra – bei der als Zugabe gespielten ukrainischen Nationalhymne, die im Publikum von einigen ukrainischen Flüchtlingen mitgesungen wird, fließen auch Tränen. Eine Ausnahmegenehmigung hatten die männlichen Musiker zunächst nur bis zum Tour-Ende in der Elbphilharmonie Hamburg am 1. Mai. Sie wurde verlängert. Das Orchester werde einige Tage in Füssen bleiben und an einem neuen Programm arbeiten, berichtet der Dirigent mit Freude. Die Mission des Kyiv Symphony Orchestra geht weiter.