Anno Mungen

Die dramatische Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient

Stimme, Medialität, Kunstleistung

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Königshausen & Neumann, Würzburg 2021
erschienen in: das Orchester 11/2021 , Seite 70

Die „dramatische Sängerin“ Wilhelmine Schröder-Devrient (1804-1860) – nach heutigen Kriterien könnte man sie als mitreißende Darstellerin und „Zwischenfach-Sängerin“ definieren – ist trotz guter Präsenz in der Sekundärliteratur vor allem aus der Perspektive Richard Wagners bekannt. Dieser schrieb für die Tochter eines berühmten Bühnenpaares die Partien des Adriano im Rienzi, Senta im Fliegenden Holländer und Venus in der Dresdner Fassung des Tannhäuser.
Anno Mungen legt in diesem Band Forschungsergebnisse aus dem Projekt „Sänger*innen und ihre Rollen im 19. Jahrhundert“ (2012-2015) vor, das im Anschlussprojekt „Wagnergesang im 21. Jahrhundert“ mit einer historisch informierten konzertanten Aufführung des Ring des Nibelungen durch Concerto Köln unter Kent Nagano fortgesetzt wird.
Von der über zwanzig Jahre vertraglich an das Dresdner Hoftheater gebundenen Künstlerin, die in Paris, London und Wien Triumphe feierte, erstellt Mungen ein „Vokalprofil“ in vier von ihm definierten Etappen ihrer Karriere. Dafür entwickelte Mungen eine plausible Methode, die nicht nur von den häufig gesungenen Paradepartien der Sängerin ausgeht. Nach heutiger Beurteilung war deren Repertoire-Spektrum immens: Hosen- und Travestierollen wie Romeo in Bellinis Il Capuleti e i Montecchi und Beethovens Fidelio sang sie zeitgleich wie die späteren Callas-Partien in Spontinis La vestale und Bellinis Norma oder die Meyerbeer-Partien Valentine in Les Huguenots und Alice in Robert le diable. Bereits in ihren frühen Zwanzigern wurde die blutjunge Anfängerin von Carl Maria von Weber in dessen Opern als Freischütz-Agathe und Euryanthe gefördert.
Mungen sammelte aus Rezensionen und Würdigungen wiederkehrende Zuschreibungen über Schröder-Devrients stimmliches und darstellerisches Potenzial, dem er mit Einzeluntersuchungen auf den Grund geht. Weil wesentliche Faktoren wie Striche, der Zensur geschuldete Eingriffe in Aufführungen und Besonderheiten der musikalischen Ausführung (Orchester; Tonproduktion – beeinflusst durch die unterschiedliche Größe von Theatern; Stimmung) nicht berücksichtigt werden konnten und aus diesem Zeitraum keine Tonkonserven vorliegen, untersuchte Mungen die Partien anhand des verfügbaren Notenmaterials. Vor allem die von Schröder-Devrient gesungenen Uraufführungen waren aufschlussreich unter der Prämisse, dass Komponisten und Uraufführungsinterpreten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensiv zusammenarbeiteten: Eine optimale sängerische Leistung begünstigte den Erfolg neuer Werke, und demzufolge orientierten sich Komponisten an den Sängern. Dabei bezieht sich Mungen mehr auf die vokale Disposition der für Schröder-Devrient entstandenen Partien in Das Schloss Candra von Joseph Matthias Wolfram (1832), Die Neuvermählte von Joseph Rastrelli (1839) und Adèle de Foix von Carl Gottlieb Reissiger und Robert Blum (1841) als darauf, inwieweit das Sujet und dessen dramatische Konzeption das Image der Künstlerin zum jeweiligen Karrierestadium bedienen.
Roland Dippel