Alfred Brendel

Die Dame aus Arezzo

Sinn, Unsinn und Musik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Carl Hanser
erschienen in: das Orchester 11/2018 , Seite 61

„Sinn und Unsinn kombiniert – bringt das nicht Einsicht in die Beschaffenheit des Menschen?“ So sagt es Alfred Brendel gleich eingangs und mit programmatischem Anspruch für die hier von ihm vorgelegte Textsammlung. Ein schmales Büchlein, das man ob seines Untertitels „Sinn, Unsinn und Musik“ zunächst, mag sein, argwöhnisch zur Hand nimmt. Tatsächlich aber hält es eine lohnende Lektüre bereit. Denn in munterem Wechsel finden sich darin gegenübergestellt, gleichsam miteinander verflochten, zum einen eigene Schriften und Vorträge des großen Interpreten, Musikdenkers und auch schriftstellerisch Tätigen und zum andern einiges an „Unsinnstexten“ einschlägiger Autoren seiner Wahl.
Unnötig zu betonen, dass die hier versammelten eigenen Texte Brendels über Musik in immer komprimiertem Duktus souverän und entschieden sowohl Sachfragen klären als auch subjektiv Position beziehen. So nachzulesen etwa in seinen Beiträgen über Haydns Sieben letzte Worte des Erlösers am Kreuze sowie zu Schuberts Winterreise, hier in Form einer Rezension von Ian Bostridges Buch über den Liederzyklus, auch im Essay Musik: Licht und Dunkel und im autobiografischen Text Mein musikalisches Leben. (In der Tat sinnstiftend dabei: Klangbeispiele aus Brendel-Einspielungen auf beigelegter CD machen einzelne Aussagen auch hörend nachvollziehbar.) Nicht weniger lesenswert indes jene umfangreicheren Texte Brendels, in denen er nun nicht über Musik spricht: „Alles und nichts. Zum Dada-Jahr 2016“ und „Über Humor, Sinn und Unsinn“ (Rede zur Eröffnung der Luzerner Festwochen 2015) sowie die titelgebende kunstästhetische Reflexion en miniature, „Die Dame aus Arezzo“.
Eingestreut zwischen diese dem Sinn zuzuschlagenden Texte schließlich verschiedenste lyrische Kleinformate von Daniel Charms und Welimir Chlebnikow, von Charles Amberg, Paul Scheerbart, Christian Morgenstern und Kurt Schwitters, von Hans Arp und Ernst Jandl. Texte also, die konsequenten Widersinn formulieren, jeden Wortsinn hinter sich gelassen zu haben scheinen oder – im Mindesten – der Rea­lität widersprechen und sie bloßstellen.
In Auswahl und Kombination all dieser Texte – musikalisch gesprochen ließe sich das Zueinander der Teile wohl als Satzfolge kennzeichnen – löst Brendel als Autor und Herausgeber, nicht laut auftrumpfend, darin aber gerade überzeugend ein, was er selbst postuliert: Er zähle sich zu jenen, für die der Tanz zwischen den Gegensätzen eine Würze des Lebens darstelle. Albernheit bedeute für ihn Befreiung von den Zwängen des Verstandes. Und in pointierter Zusammenfassung: „Unsinn im Sinn oder Sinn im Unsinn, also die Verflechtung beider: Das klingt vernünftig. Es ist ein Konzept, das absurd genug ist, um realistisch zu sein.“
Ein Selbstporträt des Künstlers in Texten, eines der besonderen Art; ein ausgesprochen persönliches Buch ist hier zu lesen, das mitten hinein führt in die Welt des großen, man will sagen: des weisen, des noblen Alfred Brendel.
Gunther Diehl