Christian Keitel / Michael Volkmer / Karin Werner (Hg.)

Die Corona-Gesellschaft

Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: transcript
erschienen in: das Orchester 12/2020 , Seite 60

Diese Publikation fand sich zu Recht auf der Sachbuchbestenliste im September 2020. Ende März, mitten im Lockdown, planten die Herausgeber einen profunden Beitrag zur Corona-Krise aus der Perspektive von Sozial- und Kulturwissenschaftlern. Denn diese blieben in den hereinbrechenden Sensationsmeldungen, Empfehlungen und der als widersprüchlich empfundenen Informationsflut oft unbemerkt. Auch Musiker waren allenfalls Nebenstimmen im Konkursmassen-Chor oder den nach Hilfe schnappenden Aufschreien der Nicht-Systemrelevanten. Dazu offenbarte die Einordnung von Oper und Konzert auf der Event-Leiste zwischen Sport und Kirche die große Ratlosigkeit der Politik nicht nur im Umgang mit kreativen und künstlerischen Erwerbstätigen, sondern auch mit den im Neoliberalismus stark diversifizierten Arbeits- und Lohnbedingungen großer Bevölkerungsgruppen.
Ohne die Pandemie und deren Auswirkungen auf das kollektive Klima und die sensiblen Befindlichkeiten von Individuen zu verharmlosen, setzten die Autoren in Textgruppen wie „Kritik der öffentlichen (Un-)Vernunft“, „Zeitlichkeiten“ und „Krisenbewältigung“ die Pandemie und Strategien zu deren Bewältigung in Relation zu ähnlichen historischen Situationen. Thematisiert wird zum Beispiel die in den vergangenen Jahrzehnten gewachsene Wertigkeit der Definition „Risikogesellschaft“ und die unrealisierbare Gewährleistung von absoluter Sicherheit. Die Beeinflussung durch den Informationsstand Covid-19 und die Pandemie-Gefährdungen zum Zeitpunkt der Niederschrift wurde von allen Autoren deutlich artikuliert. Das verleiht den Texten ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit, auch weil in ihnen die Ratlosigkeit beim Schreiben aufgrund der ungewöhnlichen Situation artikuliert wird.
Welchen Nutzen hat die Lektüre für Kulturschaffende? Wenn seit Beginn der Spielzeit 2020/21 Platz- und Veranstaltungsangebote allmählich wieder hochgefahren werden, bedeutet das noch lange nicht, dass der Status quo ante Coronam schnell im vorherigen Umfang erreicht wird. Für professionelle Orchester und Theater stellen sich die großen Fragen nach dem „Wie“, „Was“, „Für wen?“. Es ist absehbar, dass die bisher gültigen Relationen von Zuschauer- und Mitwirkenden-Zahlen vorerst schrumpfen. Mit welchen Dramaturgien und Marketing-Strategien bespielt man jetzt die Lücken in den Publikumsreihen und die durch Hygienekonzepte erzwungenen Abstände zwischen den Ausführenden?
Hohes Reaktionstempo mit Blick auf zukunftsorientierte Nachhaltigkeit ist jetzt eines der wichtigsten Erfordernisse, denn „die Bedeutung dieser Bereiche wird vermutlich erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit dringen, wenn in einer postcoronalen Zeit die Vielseitigkeit und Kleinteiligkeit von Gastronomie-, Kultur- und Dienstleistungsangeboten fehlt“ (Katharina Munderscheid). Diese Aufsatzsammlung bietet ein längerfristig gültiges Wissensinstrument zur Entwicklung von antipandemischen, aber nicht panischen Durchhaltekonzepten für musikalische Klein-, Mittel- und Großbetriebe.
Roland Dippe