Wolfgang Seidel
Die Braut des Holländers
Berühmte Frauengestalten in der Oper
Lulu schlägt über die Stränge, gesellschaftlich und persönlich. Auch so kann man interpretieren, dass Autor Wolfgang Seidel die Zentralgestalt Frank Wedekinds und Alban Bergs eine „Borderlinerin“ nennt. Der Lektor und nun auch Autor macht sich an ein beliebtes Thema: Frauengestalten der Oper, berühmt müssen sie auch noch sein.
Wirkt das Cover wie das Plakat für ein ultramodernes Regietheater (und transportiert doch nur Klischees), so geht es auch zwischen den Buchdeckeln zur Sache. In dreimal Richard Strauss, viermal Wagner und dreimal Verdi – also einem Spiegel des Norm-Repertoires – sowie in diversen Einzelstücken (von Agrippina bis Eugen Onegin) findet Seidel allerlei Psychologisches.
„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“, empfiehlt er Carmen; Tosca scheint ihm „ein Fall für
#MeToo“ und bei Rigolettos Gilda findet er gar „einen Hauch von Stockholm-Syndrom“. Im Vorwort findet sich, nicht immer stilsicher, vor allem Bekanntes. Ob Opernfrauen Frauenrollen ihrer Zeit spiegeln, weil sie vor anspruchsvollem Publikum spielten, mag man bezweifeln.
Das Folgende ist flott geschrieben und liest sich auch so weg. Die Außenseiterinnen, die Antiheldinnen, die Seidel den Lesern mit Schwung und viel heutigem Jargon vorführt, haben es ihm besonders angetan. Da ist Carmen zwar klischeehaft eine „Zigarrenrollerin“, die die Männer zappeln lässt, aber immerhin „die erste emanzipierte Frau auf der Opernbühne“. Und die kämpft eben nicht um Ehestand und Kinderglück, sondern um die Macht gegen und über die Männer. Genauso hat Stephan Märki Bizets Klassiker 2018 in Bern inszeniert (auf DVD und bald im Staatstheater Cottbus zu sehen). Und in diesem Punkt ist Seidels Buch die Aufmerksamkeit wert – er sucht, wonach auch Regieteams voller Eifer fahnden: die Aktualität oder wenigstens den zeitgemäßen Aufhänger für die Neuinszenierung einer alten Oper. Wenn er also über Desdemona schreibt, sie sei „an einen emotional extrem labilen Mann geraten“, der seine Dämonen auslebe, so lässt sich das, wieder in Cottbus, live erleben: in Jasmina Hadžiahmetovićs fulminanter Inszenierung des Otello.
So weit ist das lesens- und oft auch bedenkenswert. Dann aber, zur Hälfte des Buchs, verlässt Seidel die Lust oder die Linie an Thema und Aufbereitung. Es gibt zwar nach wie vor chice Überschriften – „Den Balsam nimm“ (Kundry),
„Die Walküre waltet frei“ – doch inhaltlich keinen Bezug mehr dazu.
Mehr und mehr wird das Buch zum normalen, ausführlich nacherzählenden Opernführer, von denen es bessere gibt. Schon im Kapitel zu Verdis Rigoletto hatte der Autor Gilda zwar das „Stockholm-Syndrom“ attestiert, aber nicht einmal den Begriff erläutert. Und auch eine Erklärung, was die Opernfigur mit der entführten Patty Hearst zu tun haben könnte, die als erste diese krankhafte Kumpanei zwischen Opfer und Täter erlitt, sucht man vergebens. Das ist ärgerlicher als so manche Ungenauigkeit in diesem Opernbuch.
Ute Grundmann