Hindrichs, Gunnar

Die Autonomie des Klangs

Eine Philosophie der Musik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Suhrkamp, Berlin 2014
erschienen in: das Orchester 03/2014 , Seite 66

Hindrichs’ ebenso schwierige wie spannende Musikphilosophie ist eine Ontologie des musikalischen Kunstwerks. Er versucht diejenigen Bestimmungen herauszuarbeiten, die jedem musikalischen Kunstwerk zukommen, und untersucht hierzu vor allem die Musik des 20. Jahrhunderts. Zum Ausgangspunkt nimmt er das musikalische Werk als Werk; die Frage, woraus es gemacht ist, führt zum Begriff des musikalischen Materials. Wobei das musikalische Material nicht nur ein passiver Möglichkeitsraum ist, sondern aus seiner eigenen Vorgeformtheit heraus nach bestimmten Formen verlangt. Die Form des Musikwerks bestimmt Hindrichs durch vier Kategorien: musikalischer Klang, musikalische Zeit, musikalischer Raum, musikalischer Sinn.
Die Frage, was musikalischer Klang im Gegensatz zu außermusikalischem ist, stellt sich nicht nur der Philosophie; sie wird selbst zum Thema vieler musikalischer Werke, etwa Pierre Schaeffers Etude aux chemins de fer von 1948. Dann ist Musik immer künstlerische Gestaltung von Zeit; Hindrichs unterscheidet dabei Zeit als Werden (Klassik, Romantik), als Abbild der Ewigkeit (Mittelalter) und als Momentform (ab 1950).
Vor allem der Serialismus hat den Raum (Tonhöhe) als Thema des musikalischen Denkens exponiert, indem er Tonhöhen und Tondauern in Reihen verknüpft hat. Der musikalische Raum kann sich ausdehnen (Beginn der Matthäuspassion) oder schrumpfen (Luigi Nonos Prometeo); seine Breite, Höhe, Tiefe und sogar seine Diagonale können formbestimmende Kraft haben.
Die Abfolge der Klänge in einem musikalischen Kunstwerk muss einen Sinn haben. Traditionell wird die Folgerichtigkeit von Klängen als musikalische Logik bezeichnet. Jedoch, so Hindrichs, lasse sich die ästhe-
tische Notwendigkeit eines musikalischen Kunstwerks nicht nach dem Modell des logischen Schließens verstehen, sondern nach dem der Rhetorik: Wie die rhetorische müsse sich auch musikalische Überzeugungskraft gegen Zweifel und Widerstände durchsetzen. Im Widerstand des Erfahrenden gegen das musikalische Werk artikuliert sich dessen Folgerichtigkeit. Die Hörer müssen dementsprechend in der Lage sein, „sich von einem musikalischen Werk verstören zu lassen“.
Es ist schließlich der musikalische Gedanke, der die ästhetische Notwendigkeit der Form des Werks unter den Anforderungen des Materials und damit seine ästhetische Geltung begründet. Um einen Begriff der ästhetischen Geltung, also von musikalischer Wahrheit, zu formulieren, der die Autonomie des Ästhetischen bewahrt, greift Hindrichs am Ende auf einen Gedanken Adornos zurück: Musik sei der Versuch, den göttlichen Namen zu nennen. Wie der Gottesname ein Sinnloses ist, erläutert Hindrichs, dessen Träger sich in der Geschichte seiner Auslegungen offenbart und dennoch immer anders bleibt, so erlangt auch das Kunstwerk sinnvolle Anwesenheit nur in seinen Interpretationen; das Unverfügbare seines Materials bürgt dafür, dass es gegenüber diesen Interpretationen immer ein Anderes bleibt. Die Verstörung des Hörers, möchte ich ergänzen, zeigt an, ob sich dieses Andere offenbart hat.
Gerhard Herrgott