Benjamin Godard

Deux Morceaux op. 36. Sur le lac – Sérénade

für Violoncello/Violine und Klavier, hg. von Wolfgang Birtel

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Ponticello Edition, Mainz
erschienen in: das Orchester 04/2023 , Seite 65

Historische Ungerechtigkeit? Nicht wenige Komponisten teilen das Schicksal des Franzosen Benjamin Godard (1849 – 1895): Aus einem reichen Œuvre bleibt eine Piece – häufig eine Petitesse – im Gedächtnis der Nachwelt präsent, alles andere versinkt im Orkus der Musikgeschichte. Im Fall Godards handelt es sich um die Berceuse aus seiner Oper Jocelyn. Zwar ist auch deren Ruhm mittlerweile verblasst, doch findet sich dank der einnehmenden Melodie der Name ihres Schöpfers zumindest noch gelegentlich auf Konzertprogrammen.
Dabei war Godard höchst produktiv: Sein Werkverzeichnis umfasst Bühnenwerke, Orchester- und Chorkompositionen, Kammer- und Klaviermusik. Als Vertreter der „Generation Saint-Saëns“ hegte er Affinitäten sowohl zur deutschen Musik insbesondere Schumanns und Mendelssohns als auch zur Pariser Grand Opéra. Seinen Beiträgen zu diesem Genre war allerdings wenig Erfolg beschieden – sieht man einmal vom Zufallstreffer der erwähnten Berceuse ab. Mehr Glück hatte Godard mit Kammermusik, Orchesterwerken und nicht zuletzt mit attraktiven Morceaux de Salon, von denen viele in eben diesen Salons erklungen sein dürften.
Letzteres gilt auch für die Deux Morceaux op. 36. Sie entstanden 1877 und erschienen sowohl in einer Cello-Version als auch in einem vom Komponisten angefertigten Violin-Arrangement. Die vorliegende Ausgabe enthält beide Versionen, deren Klavierparts identisch sind. In der Adaption für Violine finden wir einige marginale Veränderungen gegenüber dem Cellopart, vor allem aber hat Godard im Mittelteil von „Sur le lac“ die Solostimme neu komponiert: An die Stelle einer sonoren Melodie im tiefen (Cello-)Register tritt eine virtuose (Violin-)Passage, deren kadenzierender Abschluss genau anders herum verläuft als die entsprechende Stelle in der Cello-Fassung. Auch in der Coda dieses Stücks unterscheiden sich die Soloparts, wobei hier die Violinversion einen Tick variantenreicher daherkommt.
Die Begegnung mit dem fast vergessenen Romantiker lohnt! Zwar erreicht Godards Tonsprache selten Mendelssohn’sche Wärme oder den Esprit Saint-Saëns’, doch bereiten die motivischen Einfälle – eine behaglich „auf dem See“ schwankende Melodie im ersten Stück, ein iberisch anmutendes Thema in der anschließenden „Sérénade“ – und deren Fortspinnungen durchaus Vergnügen. Beide Stücke entsprechen formal dem Typus des dreiteiligen Liedes (ABA’): Nach umfangreichem Mittelteil mit kontrastierendem Material kehrt das Geschehen zum Anfangsduktus (in variierter Form) zurück. Technisch stellen die Deux Morceaux keine allzu hohen Anforderungen, es braucht indes – und dies gilt fast noch mehr für den Klavierpart – zuverlässiges „Handwerk“, um die Delikatesse dieser charmanten Musik zum Klingen zu bringen.

Gerhard Anders