Deutsche Oper Berlin
100 Years 1912 2012, 5 DVDs
Ob man denn inzwischen herausgefunden habe, was damit gemeint sei, witzelt Christa Ludwig, Operndiva im Ruhestand, mit ernstem Gesicht und ironischem Unterton über die 20 Meter hohe abstrakte Stahlplastik von Hans Uhlmann vor der Deutschen Oper Berlin. Bis heute ist die rätselhafte Figur Anlass für meist naserümpfende Kommentare über moderne Kunst und von den Berlinern nicht weniger hassgeliebt als die berühmt-berüchtigte Waschbetonfassade, vor der sie steht. Fritz Bornemann hat diese für seinen 1961 eingeweihten Opernneubau radikal entworfen, um Kunst und Publikum vom tosenden Verkehr der vielspurigen Bismarckstraße wie hinter einer Schallschutzwand abzuriegeln. Eine Oase ist das Haus denn auch für die einen, ein Betonklotz für die anderen.
Dietmar Schwarz, der von seiner Position als Operndirektor am Theater Basel auf Anhieb höchst erfolgreich in seine erste Berliner Spielzeit gestartete neue Intendant der Deutschen Oper Berlin, hat das kontroverse Empfinden gegenüber dem Bornemann-Bau in der ersten Plakat- und PR-Kampagne seiner Amtszeit denn auch ebenso offensiv wie clever aufgegriffen und intelligent fortgesponnen. Zwischen disparaten Positionen soll der Betrachter seine eigene finden, dazu fordern ihn auch die Ankündigungsplakate der Premieren auf: Tor oder Erlöser hieß es etwa auf den Plakaten zur Parsifal-Neuinszenierung.
Gleich in die Anfangszeit der Ära des neuen Intendanten fiel das am 7. November 2012 begangene 100-Jahr-Jubiläum der Deutschen Oper Berlin. Anlass genug zur Produktion des bereits erwähnten, nicht nur wegen des letzten, kurz vor dessen Tod geführten Film-Interviews mit Dietrich Fischer-Dieskau sehenswerten Films Ouvertüre 1912 von Enrique Sánchez Lansch, dem Ko-Regisseur von Thomas Grube beim vielfach preisgekrönten Dokumentarfilm Rhythm is it! über ein Tanzprojekt der Berliner Philharmoniker. Medial komplettiert wurden die Feierlichkeiten mit einer bei Arthaus Musik erschienenen DVD-Box mit fünf ton- wie bildtechnisch überraschend frischen Opern-Fernseh-Aufzeichnungen aus den Neubeginnjahren 1961 bis 1967 (Don Giovanni von 1961, Otello von 1962, Fidelio von 1963, Don Carlos von 1965, Die heimliche Ehe von 1967) sowie einem Bildband mit dem Titel Hundert Jahre Deutsche Oper Berlin. Auf fast 290 Seiten im Querformat haben die Herausgeber Curt A. Roesler, seit 1980 Dramaturg am Haus, Leo Seidel, Berliner Fotograf, und Jörg Königsdorf, seit 2012 Chefdramaturg der Deutschen Oper, in bewundernswerter Detail- und Recherchearbeit ein gleichermaßen höchst informatives wie unterhaltendes Kompendium über das große West-Berliner Opernhaus erstellt, dessen Geschichte und Geschichten in zahlreichen Interviews, darunter z.B. mit Donald Runnicles, Hans Neuenfels, Julia Varady, Walter Hagen-Groll oder Elfi Wendlandt, Tochter des in den 1910er Jahren zum Ensemble gehörenden Sängers Harry Steier und älteste Zeitzeugin der damaligen Städtischen Oper Berlin, eindrucksvoll Gestalt annehmen.
Ulrich Ruhnke